Postersession 2008

Bildung & Sozialisation  / Unterrichten, Lernen, Verstehen

Almuth Meissner (Berlin): Domänenspezifisches Vorwissen und seine Aktualisierung bei der Rezeption literarischer Texte im Deutschunterricht

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Karin Tschackert (Berlin): Schülerleistung und Prozessorientierung im Aufsatzunterricht als Bedingungsfaktoren für die Qualität von Schreibprozessen am Notebook

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Christine Moritz (Ludwigsburg): Das Kongruenzfeld in der Instrumentalpädagogik. Eine Grounded-Theory-Studie

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Felix Buchhaupt (Frankfurt am Main): Emotionen und Lernen – Emotionsregulative Prozesse im Interaktionssystem Unterricht

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Julia Bürger (Cork, Ireland): Interkulturelles Lernen in und durch binationale Trainings

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Organisation & Institution / Arbeiten von und mit Organisationen

Stefanie Schmachtel (Hamburg): Multiprofessionelle und interorganisationale Lernprozesse in einer lokalen Steuergruppe des Hamburger Projekts „Bildungsoffensive Elbinseln“. Implikationen von „Regional Governance“ im Bildungsbereich

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Claudia Queißer & Timo Dellai (Hamburg): Die erfolgreiche Zusammenarbeit organisatorischer Einheiten: Die Lösung sozialer Dilemmata im Organisationskontext

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Hemma Mayrhofer (Wien, Österreich): Die Organisation niederschwelliger Sozialer Arbeit

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Stephan Schumacher (Reutlingen): Beteiligungsorientierte Modernisierung von Wissensarbeit in Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege

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Patricia Wolf, Pierre-Yves Kocher & Lukas Scheiber (Luzern): IDIP – Innovations Dynamics in Practice

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Gesellschaft & Kultur / Umgehen mit gesellschaftlichen Teilgruppen

Veronika Schmid (Marburg): Überwertiger Realismus und Menschenfeindlichkeit

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Angela Wegscheider (Linz, Österreich): Politik für Menschen mit Behinderung in Österreich

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Christine Reum (Mannheim): Die Sendeform magazine multiculturel als Ort der Begegnung: Konversationsanalytische Betrachtung eines (Medien-) Gesprächs

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Sandra Polchow (Potsdam): Zum subjektiven Sportverständnis jugendlicher Leistungssportler. Erarbeitung einer empirisch begründeten Typologie

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Anja Bargfrede (Berlin): Untersuchung von Versorgungskarrieren im Gesundheitssystem mit dem Ansatz der Grounded-Theory-Methodologie

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Linda Nierling (Karlsruhe): Die Organisation von Anerkennung

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Methodenentwicklung / Methodologien für die empirische Sozialforschung

Anna Henkel (Witten/Herdecke): Luhmanns tools

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Abstracts

Domänenspezifisches Vorwissen und seine Aktualisierung bei der Rezeption literarischer Texte im Deutschunterricht

Almuth Meissner (Berlin)

Ausgangspunkte: Während die Bildungspolitik deutschlandweit auf nationale Bildungsstandards sowie kompetenz- und standardorientierte Rahmenlehrpläne fokussiert und einzelne Bundesländer gleichzeitig am Zentralabitur festhalten oder dieses sogar neu einführen, wird auf Schul- bzw. Unterrichtsebene weiterhin gefragt, welchen Stellenwert bestimmte Wissensinhalte haben. Für den Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe ist hier v.a. Wissen relevant, das das Verstehen literarischer Texte fördert.

Ausgehend von der Annahme, Lesen sei ein konstruktiver Prozess, bei dem unterschiedliche Teilprozesse vielfach interagieren, fragt die Textverständlichkeitsforschung nach sprachlich-stilistischen und kognitiv-inhaltlichen Merkmalen von Texten, die das Verstehen erleichtern bzw. erschweren, während die Textverstehensforschung auf kognitive Fähigkeiten und Aktivitäten von Lesenden, die für das Verständnis von Texten notwendig sind, fokussiert.

Forschungskontext: Der Frage, welches Wissen das Verstehen literarischer Texte fördert, wie dieses organisiert sein könnte und wie es sinnvoll in den Interpretationsprozess eingebracht werden sollte, ist verschiedentlich nachgegangen worden (z.B. Heinen 2001; Winkler 2007). Vorarbeiten in der deutschdidaktischen Forschung betreffen theoretische Überlegungen zu textseitigen Anforderungen z.B. an literarisches Gattungs- oder kulturelles Wissen bzw. zu verschieden gerichtetem Kontextwissen sowie dessen Nutzung in leserseitigen Rezeptionsprozessen (Eggert 2002; Zabka 1999). Bereits vorliegende empirische Untersuchungen (Willenberg 2007; Gailberger 2007; Fingerhut 2007) fokussieren dabei die Funktion sogenannter Mentaler Modelle.

Forschungsfragen: Zentrale Fragen der hier vorgestellten empirisch angelegten Studie lauten: Welches domänenspezifische Vorwissen wird im Rahmen schulischer Lektüreprozesse beim Lesen und Verstehen literarischer Texte aktualisiert? Wie wird auf dieses Wissen im Zuge der gegenläufigen Textverarbeitungsprozesse (textgeleitet/bottom up vs. wissensgeleitet/top down) zurückgegriffen? Welches domänenspezifische Wissen hätte ggf. zur Verfügung gestanden, wurde für den Interpretationsprozess aber nicht aktualisiert?

Forschungsdesign/-methode: Im Rahmen der Untersuchung werden mündliche Verstehensäußerungen zu einem literarischen Text, die mithilfe einer Interpretationsaufgabe elizitiert wurden, daraufhin untersucht, welches inhaltliche und strukturelle Wissen in den Verstehensprozess eingebracht wird, wie dieses verknüpft bzw. zur Begründung der Deutungshypothesen herangezogen wird. Die Erhebung findet im Rahmen eines Gruppengesprächs statt, so dass die beobachtbaren Verstehensprozesse sowohl auf individueller als auch auf überindividueller Ebene betrachtet werden können. Die Ergebnisse aus dem Gruppengespräch werden mit Daten aus einem Wissenstest in Beziehung gesetzt.

Das Poster soll die Anlage der Studie zur Diskussion stellen. Gegebenenfalls werden erste Ergebnisse aus der Pilotierungsphase präsentiert.

Literatur

  • Eggert, Hartmut (2002). Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz. In Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (Hrsg.), Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen (S.186-194). Weinheim: Juventa.
  • Fingerhut, Karlheinz (2007). Was sagen Klausuren über Verstehenskompetenzen? In Heiner Willenberg (Hrsg.), Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht (S.60-73). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
  • Gailberger, Steffen (2007). Die Mentalen Modelle der Lehrer elaborieren. In Heiner Willenberg (Hrsg.), Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht (S.24-36). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
  • Heinen, Stefanie (2001). Der Einfluss von Vorwissen, Interesse und Arbeitsgedächtniskapazität auf die mentale Repräsentation von Texten. Dissertation: Bielefeld, Universität, Fakultät für Psychologie.
  • Willenberg. Heiner (2007). Lesestufen – Die Leseprozesstheorie. In Heiner Willenberg (Hrsg.), Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht (S.11-23). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
  • Winkler, Iris (2007). Welches Wissen fördert das Verstehen literarischer Texte? Zur Frage der Modellierung literarischen Wissens für den Deutschunterricht. Didaktik Deutsch22, 71-88.
  • Zabka, Thomas (1999). Subjektive und objektive Bedeutung. Vorschläge zur Vermeidung eines konstruktivistischen Irrtums in der Literaturdidaktik. Didaktik Deutsch7, 4-23.

Kontakt: almuth.meissner.1@staff.hu-berlin.de /

Webseite: http://www2.hu-berlin.de/fachdidaktik/Biographie/BIOMEISSNER.htm

Schülerleistung und Prozessorientierung im Aufsatzunterricht als Bedingungsfaktoren für die Qualität von Schreibprozessen am Notebook

Karin Tschackert (Berlin)

Ausgangspunkt: Bereits in den 1980er Jahren fand in der Aufsatzdidaktik ein Paradigmenwechsel statt, der als kognitive Wende bezeichnet werden kann und eine Verschiebung des Fokus der Aufsatzdidaktik auf den Schreibprozess anstelle des Schreibprodukts mit sich brachte. Zusätzlichen Auftrieb erhielt die Schreibprozessforschung durch das Aufkommen der elektronischen Datenverarbeitung am Computer.

Forschungsinteresse: Das Dissertationsprojekt befasst sich mit der Analyse von Schreibprozessen (i.S.v. Blatt & Hartmann 2004) von Schülerinnen und Schülern am Notebook. Von besonderem Forschungsinteresse ist dabei, welche qualitativ unterschiedlichen Arten von Schreibprozessen sich beobachten lassen und von welchen Bedingungen – der Art des Schreibunterrichts einerseits und der Schreibleistung der Schülerinnen/Schüler andererseits – die Qualität des Schreibprozesses abhängt.

Stichprobe: Die Stichprobe der vorliegenden Untersuchung bilden 16 Schülerinnen und Schüler aus vier 8. Klassen, die an ihren Gymnasien mit dem Notebook-Einsatz im Unterricht bereits vertraut waren. Die Schülerinnen/Schüler unterscheiden sich einerseits hinsichtlich ihrer Leistungen im Verfassen von Aufsätzen, andererseits zeichnet sich deren Schreibunterricht durch ein unterschiedliches Ausmaß an Prozessorientierung (i.S.v. Ludwig 1989; Sieber 2005) aus.

Methodik: Die Schreibprozesse der Schülerinnen und Schüler wurden detailliert untersucht und mit den unterschiedlichen Voraussetzungen sowie den entstandenen Schreibprodukten in Verbindung gebracht. Für die Analyse der Schreibprozesse wurden Videodaten verwendet, die den Textentstehungsprozess am Computer-Bildschirm nachzeichnen, sowie Interviewdaten aus stimulated recalls mit den einzelnen Schülern/Schülerinnen im Anschluss an die Beobachtung. Mit Hilfe von Diskriminanzanalysen der Beobachtungsdaten, ergänzt um qualitative Inhaltsanalysen der Interviewdaten nach Mayring (2000), kann gezeigt werden, ob und wie sich die Schreibprozesse am Notebook in Abhängigkeit von Schülerleistungen und Unterrichtsbedingungen unterscheiden.

Resultate: Erste vorläufige Ergebnisse zeigen, dass sich die untersuchten Schülerinnen und Schüler anhand einer Clusteranalyse bezüglich der beobachteten Qualität ihrer Schreibprozesse in eine Gruppe fortgeschrittener Schreiber und in eine Gruppe von Basis-Schreibern einteilen lassen. Unter Einbezug der qualitativ-inhaltsanalytischen Auswertung der stimulated recalls mit den Schülern/Schülerinnen können die Verhaltensunterschiede zwischen diesen beiden Clustern tiefer gehend beschrieben und interpretiert werden. Weitere Diskriminanzanalysen zeigen, dass die Qualität des Schreibprozesses hoch signifikant mit der Schul-Aufsatznote sowie mit der in der Untersuchung gezeigten Aufsatzleistung, nicht aber mit dem Ausmaß an Prozessorientierung im Aufsatzunterricht zusammen hängt.

Literatur

  • Blatt, Inge & Hartmann, Wilfried (2004). Schreibprozesse im medialen Wandel. Ein Studienbuch. Diskussionsforum Deutsch, 17, 30-70.
  • Ludwig, Otto (1989). Die Produktion von Texten im Deutschunterricht – Tendenzen in der Aufsatzdidaktik und ihre Herkunft. In Gerd Antos & Hans Peter Krings (Hrsg.), Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick (S.328-347). Tübingen: Niemeyer.
  • Mayring, Philipp (2000). Qualitative Inhaltsanalyse [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2-00mayring-d.htm.
  • Sieber, Peter (2005). Didaktik des Schreibens – vom Produkt zum Prozess und weiter zur Textkompetenz. Revue suisse des sciences de l’éducation, 27(3), 381-406.

Kontakt: karin.tschackert@staff.hu-berlin.de

Webseite: http://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/institut/abteilungen/didaktik/personal/tschackert/index_html

Das Kongruenzfeld in der Instrumentalpädagogik. Eine Grounded-Theory-Studie

Christine Moritz (Ludwigsburg)

Fragestellung: Das Dissertationsprojekt (gefördert im Rahmen des Hochschulwissenschaftsprogramms des Landes Baden-Württemberg) stellt sich zur Aufgabe, das Phänomen der Begegnung(Martin Buber) im Bereich der Instrumentalpädagogik (Klavierunterricht) empirisch zu untersuchen. Die Forschungsfrage lautet: Welche Qualitäten der pädagogischen Beziehung lassen sich ausgehend vom Phänomen der Begegnung (Buber 1923) über einen subjektorientierten Zugang zu einem Forschungsfeld im Verlauf musikalischer Lernprozesse hinsichtlich spezifisch instrumentalpädagogischer Anforderungen (Klavierunterricht) beobachten und in für die pädagogische Praxis geeigneten sprachlichen Begriffen differenziert beschreiben? (vgl. zur Problematik der Forschungsfrage im interdisziplinären Bereich der Musikpädagogik: Jank, Meyer & Ott 1986)

Methode: Die Auseinandersetzung mit der Grounded Theory Methodologie (GTM) war zur Bewältigung des Forschungsthemas im nahezu unerforschten Bereich der Instrumentalpädagogik unausweichlich und führte im Laufe des Forschungsprozesses zur Anwendung einer eher Glaserschen Variante.

Theorie/Rahmen: Das Rahmenmodell der Studie ist als ein Teilergebnis der Studie zu betrachten, die während der letztjährigen Postersession beim Berliner Methodentreffen erstmals vorgestellt wurde: Auf einer Datenbasis von zunächst 257 videoaufgezeichneten Unterrichtseinheiten und Interviews mit Klavier-Lehrkräften sowie (im Rahmen des theoretical sampling) 55 Videoaufzeichnungen, ExpertInneninterviews und eines Gruppendiskussionsverfahrens konnte softwareunterstützt (AQUAD 4) über das offene Kodieren ein theoretisches Rahmenmodell entwickelt werden, der sog. „dialogische Kubus“ (vgl.Moritz 2007). Das Rahmenmodell des dialogischen Kubus definierte kommunikationsrelevante Konstrukte, welche über verbale, nonverbale und handelnde Entitäten hinausgehen: subjektive Phänomene, sogenannte „Resonanzphänomene“ sind als autonome Bedeutungsträgerinnerhalb einer Kommunikationshandlung rekonstruierbar. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit vorhandener Theorie wurde zunehmend auf interaktionistische (z.B. Schäfer 2005), konstruktivistische (z.B. Terhard 1999) und feldtheoretische (Lewin 1982) (Lern-) Konstrukte Rückbezug genommen.

Ergebnisse: Die drei wesentlichen Elemente der GT wurden unter den Bezeichnungen „Das Eigene“, „Das Andere“ und die „Konstruktion gemeinsamen Lebensraums“ innerhalb der Kubuskategorien beschrieben. Der Begriff des „Kongruenzfeldes“ (KF), welches sich als eine kurzfristige quantitative und qualitative „Erweiterung des gemeinsamen Lebensraumes“ in Form zeitlich abgrenzbarer „Phrasen“ – wie die projektspezifischen Kommunikationspartituren empirisch aufzeigen werden – zusammenfassen lässt, stellte sich als geeignet heraus, um die komplexen Abläufe des existenzphilosophischen Phänomens der Begegnung auf nunmehr empirischer Ebene im Rahmen fachspezifischer Anforderungen der Musikpädagogik zu beschreiben und darzustellen. Indikator des Kongruenzfeldes ist dessen Ereignis, das „Kongruenzfeldereignis“ (KFE), welches sich als subjektive Produktion innerhalb des Kubusmodells beschreiben lässt. Das KFE bildet den Ausgangspunkt eines geplanten Folgeprojektes im Lehrbereich „Instrumentale Kleingruppe“ sowie „Kooperation zwischen Schule und Musikschule“.

Literatur

  • Buber, Martin (1962). Ich und Du. In Martin Buber (urpsr. 1923), Werke. Schriften zur Philosophie Band I. München und Heidelberg: Kösel und Lambert Schneider.
  • Jank, Werner; Meyer, Hilbert & Ott, Thomas (1986). Zur Person des Lehrers im Musikunterricht. Methodologische Probleme und Perspektiven zu einem Konzept offenen Musikunterrichts. In Hermann J. Kaiser (Hrsg), Musikpädagogische Forschung. Band 7 (S.87-131). Laaber: Laaber-Verlag.
  • Lewin, Kurt (1982). Kurt-Lewin-Werkausgabe. Bd II: Feldtheorie, Bern: Huber-Verlag.
  • Moritz, Christine (2007). Dialogische Prozesse in der Instrumentalpädagogik. Vorstellung eines Forschungsprojekts. In Norbert Schläbitz (Hrsg.), Interkulturalität als Gegenstand der Musikpädagogik. Musikpädagogische Forschung, Band 28 (255-286). Essen: die blaue Eule.
  • Schäfer, Karl-Hermann (2005). Kommunikation und Interaktion: Grundbegriffe einer Pädagogik des Pragmatismus. Wiesbaden: VS.
  • Terhard, Ewald (1999) Konstruktivismus und Unterricht. Zeitschrift für Pädagogik45(5), 629 – 647

Kontakt: Moritz@ph-ludwigsburg.de

Emotionen und Lernen – Emotionsregulative Prozesse im Interaktionssystem Unterricht

Felix Buchhaupt (Frankfurt am Main)

Thema: Das kognitionspsychologische Verständnis von Lernprozessen im Anschluss an die Arbeiten von Piaget verdeutlicht, dass sich Lernen nicht nur als Erweiterung von Wissen, sondern als Reorganisation vorhandener Kompetenzen verstehen lässt. Kognitive Entwicklung ist aus dieser Perspektive stets von der Dynamik zwischen Kontrolle und Kontrollverlust und damit auch von Angst geprägt (vgl. Katzenbach 1999). Für das Gelingen schulischer Lernprozesse sind damit nicht nur kognitive Kompetenzen, sondern insbesondere auch die Fähigkeit zur Regulation von Emotionen relevant. Vor diesem Hintergrund hat sich das Forschungsinteresse herausgebildet, emotionale Regulationsprozesse im Unterricht und ihre Bedeutung für Lernprozesse zu untersuchen.

Forschungsfragen: Dieses Interesse differenziert sich u.a. in die folgenden Fragen: a) Welche emotionsregulativen Prozesse lassen sich in schulischen Unterrichtsinteraktionen identifizieren und welche Bedeutung kommt ihnen dort zu? Damit wird der Fokus der Betrachtung auf die Interaktion im Unterricht gelegt, die den sozialen Rahmen des individuellen emotionalen Geschehens bildet. b) Welche „Darstellungsregeln“ für Emotionen (vgl. Ekman & Friesen 1969) bestehen im schulischen Kontext und wie werden diese vermittelt? Diese Perspektive zielt vorrangig auf das Handeln der Lehrperson und ihre Interpretation der Bedeutung von Emotionen im Unterricht ab.

Methodik: Im Zentrum stehen Videoaufzeichnungen von Unterrichtssituationen, durch die anhand von zwei Kameras einerseits mimische Prozesse eines ausgewählten Schülers – zur Erfassung von emotionalen Prozessen im Ausdruck (vgl. Bänninger-Huber 1996) – und andererseits die Unterrichtsinteraktion zwischen Schüler/Schülerinnen und Lehrer/Lehrerinnen aufgenommen werden.

Leitfaden-Interviews mit den Lehrern/Lehrerinnen über die Bedeutung von Emotionen im Unterricht sollen einerseits deren Perspektive erfassen und können andererseits im Sinne einer kommunikativen Validierung auch zur Überprüfung der anhand der Videoaufzeichnungen gewonnenen Thesen dienen.

Neben diesen noch zu erprobenden qualitativen Verfahren sollen mit einem Fragebogen für Lehrer/Lehrerinnen das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF) und mit dem Fragebogen zur Erhebung der Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen (FEEL-KJ) auch standardisierte Daten erhoben werden, um im Sinne der Methodentriangulation zu einem umfassenderen Bild des Untersuchungsgegenstandes zu kommen.

Das Poster soll insbesondere das methodische Design der Untersuchung darstellen, wobei auch offene Fragen zur Auswertung und der Kombination der unterschiedlichen Methoden einen Schwerpunkt bilden.

Literatur

  • Bänninger-Huber, Eva (1996). Mimik – Übertragung – Interaktion. Die Untersuchung affektiver Prozesse in der Psychotherapie. Bern: Hans Huber.
  • Ekman, Paul & Friesen, Wallace V. (1969). The repertoire of nonverbal behavior: Categories, origins, usage and coding. Semiotica, 1, 49-98.
  • Katzenbach, Dieter (1999). Kognition, Angstregulation und die Entwicklung der Abwehrmechanismen. Ein Beitrag zum Verständnis behinderter Lernfähigkeit. In Wilfried Datler, Christian Büttner & Urte Finger-Trescher (Hrsg.), Jahrbuch für psychoanalytische Pädagogik, Bd. 10 (S.124-145). Gießen: Psychosozial-Verlag,.

Kontakt: f.buchhaupt@em.uni-frankfurt.de

Interkulturelles Lernen in und durch binationale Trainings

Julia Bürger (Cork, Irland)

Ausgangspunkt: Ein interkulturelles Training kann als systematisch geplanter interkultureller Lernprozess verstanden werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit interkulturellen Trainings und Seminaren ist geprägt von einem starken Anwendungsbezug, der Beteiligung vieler unterschiedlicher Disziplinen und, damit einhergehend, von der Heterogenität verwendeter Begriffe, Modelle, Trainingsansätze und Forschungsinstrumente. Gleichzeitig ist die Evaluationsforschung interkultureller Trainings mit wenigen Ausnahmen (z.B. Kinast 1998) dem angloamerikanisch geprägten quantitativen Forschungsparadigma verschrieben. Der gegenwärtige Forschungsstand zeigt, dass interkulturelle Trainings in den meisten Fällen positive Wirkungen, insbesondere auf kognitiver Ebene, nach sich ziehen (Mendenhall et al. 2004). Aufgrund der oben beschriebenen Charakteristika des Forschungsbereichs sind jedoch kaum Aussagen darüber möglich, wie und warum ein bestimmtes Training wirkt oder welche Vor- oder Nachteile bestimmte Trainingsformen haben. Das vorliegende Forschungsprojekt setzt hier an, indem es sich in umfassender Weise mit einer bestimmten Form interkultureller Trainings befasst, nämlich kulturspezifischen Trainings, bei denen die Trainingsteilnehmenden aus zwei Nationen kommen (kurz: binationale Trainings).

Zielsetzung und Forschungsfragen: Das Forschungsprojekt setzt sich theoretisch – unter Einbeziehung lernpsychologischer und sozialpsychologischer Intergruppentheorien – und empirisch mit interkulturellem Lernen in binationalen Trainings auseinander. Das Poster wird sich dem empirischen Teil des Projektes widmen. Die wesentliche Frage dabei ist, was und wie (z.B. durch gemeinsame Reflexion, Schlüssel- oder Diskrepanzerlebnisse) die Teilnehmenden in so einem Training lernen und welche Rolle der binationalen Zusammensetzung beim Lernen zukommt. Dabei sollen die Potentiale, aber auch die Schwierigkeiten eines solchen Trainingsdesigns für das interkulturelle Lernen aufgezeigt werden. Von Interesse ist darüber hinaus, ob sich Lernprozesse und Trainingswirkungen bei den Teilnehmenden aus beiden Nationen unterscheiden. 

Empirische Umsetzung/Methoden: Das Projekt kombiniert im Rahmen der Trainingsevaluation qualitative und quantitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden, um die Fragestellung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. In der Hauptstudie wurden vier deutsch-tschechische interkulturelle Trainings mit insgesamt 42 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt und auf Video aufgezeichnet. Direkt vor und nach den Trainings füllten die TeilnehmerInnen Fragebögen aus, die einerseits quantitative Messungen enthielten (Skalen zur interkulturellen Sensibilität, Einstellung gegenüber der anderen Nationalität, Intergroup Anxiety) sowie offene Fragen zur Analyse von zwei interkulturellen Fallbeispielen. Sechs bis acht Monate nach den Trainings wurden mit den TeilnehmerInnen teilstrukturierte qualitative Interviews geführt, in denen ihr Umgang mit interkulturellen Situationen im Alltag, die Rolle, die das Training ihrer Meinung nach dabei spielte sowie ihre Erinnerung an Trainingssituationen und –inhalte erfragt wurden.

Die statistische Auswertung der Fragebögen erfolgt anhand varianzanalytischer Verfahren. Die offenen Fragen des Fragebogens und die Interviews werden mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) bearbeitet. Gesprächssituationen zwischen den TeilnehmerInnen während des Trainings sollen unter Einbeziehung konversationsanalytischer Verfahren im Sinne der ethnographischen Gesprächsanalyse (Deppermann 2000) ausgewertet werden.

Das Projekt befindet sich momentan in der Ergebnisauswertung. Das Poster präsentiert das Forschungsdesign und die Art der Ergebnisse, die sich durch die jeweiligen Erhebungs- und Auswertungsmethoden ergeben. Die Möglichkeiten einer integrativen Darstellung der Ergebnisse soll diskutiert werden.

Literatur:

  • Deppermann, Arnulf (2000). Ethnographische Gesprächsanalyse. Zu Nutzen und Notwendigkeit von Ethnographie für die Konversationsanalyse. Gesprächsforschung, 1, 96-124. www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2000/ga-deppermann.pdf.
  • Kinast, Eva-Ulrike (1998). Evaluation Interkultureller Trainings. Lengerich: Pabst.
  • Mayring, Philipp (2000). Qualitative Inhaltsanalyse [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2-00mayring-d.htm.
  • Mendenhall Mark E.; Stahl Günter K.; Ehnert, Ina; Oddou, Gary; Osland, Joyce S. & Kühlmann, Torsten M. (2004). Evaluation studies of cross-cultural training programs: A review of the literature from 1988 to 2000. In Dan Landis, Janet M. Bennett & Milton J. Bennett (Hrsg.), Handbook of intercultural training (3. Aufl., S.129-143). Thousand Oaks: Sage.

Kontakt: buerger.julia@web.de

Multiprofessionelle und interorganisationale Lernprozesse in einer lokalen Steuergruppe des Hamburger Projekts „Bildungsoffensive Elbinseln“. Implikationen von „Regional Governance“ im Bildungsbereich

Stefanie Schmachtel (Hamburg)

Ausgangspunkt und theoretischer Rahmen: Seit den 1990ern lässt sich ein Trend zu verstärkt regionalisiertem und dezentralisiertem staatlichen Handeln ausmachen, der sich im Bildungssystem in der aufkommenden Diskussion um „Regionale“ oder „Lokale Bildungslandschaften“ ausdrückt. Bildungs-, Beratungs- und Betreuungsangebote in der Kommune bzw. Region sollen aufeinander abgestimmt werden. Fürst (2004) beschreibt mit seinem Ansatz „Regional Governance“ Strukturen und Prozesse kollektiver Selbststeuerung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in der Region (i.S. einer netzwerkartigen Multi-Level-Struktur), die darauf abzielen, die regionale Entwicklung voranzutreiben.

Ansätze eines solchen Phänomens sind in einigen Projekten zur Entwicklung regionaler Bildungslandschaften erkennbar (z.B. Selbstständige Schule NRW, vgl. Fürst 2004). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe thematisieren jedoch das Konfliktpotential in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen pädagogischen Institutionen. Deswegen folgt die Dissertation der Annahme, dass in entstehenden Regional Governance-Systemen im Bildungsbereich davon auszugehen ist, dass die institutionellen Hintergründe und die damit verbundenen „Handlungslogiken“ der Steuergruppenakteure ein nicht zu unterschätzendes Problem in der Zusammenarbeit darstellen – die Aushandlung einer gemeinsamen regionalen Strategie bedarf eines „expansiven Lernprozesses“ (vgl. Engeström 1987) der Beteiligten.

Untersuchungsgegenstand/Forschungsfragen: Anhand einer Fallanalyse im Rahmen des Hamburger Projekts „Bildungsoffensive Elbinseln“ untersucht die Dissertationdie Zusammenarbeit von Leitungspersonen unterschiedlicher Bildungsinstitutionen in einer einrichtungsübergreifenden lokalen Steuergruppe. Sie konzentriert sich auf die Entwicklungen in einer der Teilregionen des Projektes. Ziel ist es aufzuzeigen, wie es den lokalen Bildungsakteuren vor dem Hintergrund ihrer „Handlungslogiken“ gelingt, eine einrichtungsübergreifende Strategie zur Verbesserung der Bildungssituation zu verhandeln und welche Anforderungen sich für sie ergeben. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozess der Steuergruppe.

Methodik: Mithilfe von leitfadengestützten Interviews wurden die unterschiedlichen professionellen Perspektiven der Akteure erhoben. Zudem wurden die Interaktionen der Akteure während der Steuergruppenmeetings über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren aufgezeichnet, ergänzt durch teilnehmende Beobachtung der Sitzungen. Vor dem Hintergrund der in Deutschland bislang noch wenig rezipierten Theorie des Expansiven Lernens nach Engeström (1987) sollen diese nun hinsichtlich des gemeinsamen Lernprozesses analysiert werden. 

In der Posterpräsentation soll die Anlage der Arbeit dargestellt und auswertungsmethodische Aspekte diskutiert werden.

Literatur

  • Fürst, Dietrich (2004). Chancen der Regionalisierung im Bildungsbereich. Regional Governance – ein neuer Ansatz der Steuerung regionaler Entwicklungsprozesse. In Projektleitung „Selbstständige Schule“ (Hrsg.), Regionale Bildungslandschaften. Grundlagen einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft (S.35-55). Troisdorf: Bildungsverlag Eins.
  • Engeström, Yrjö (1987). Learning by expanding. An activity-theoretical approach to developmental research. Helsinki: Orienta-Konsultit.

Kontakt: stefanie.schmachtel@gmx.net

Die erfolgreiche Zusammenarbeit organisatorischer Einheiten: Die Lösung sozialer Dilemmata im Organisationskontext

Claudia Queißer & Timo Dellai (Hamburg)

Untersuchungsziel: Die Zusammenarbeit von organisatorischen Akteuren (z.B. Abteilungen, Geschäfts- oder Konzerneinheiten) kann, ebenso wie die Zusammenarbeit von Individuen, die Form eines sozialen Dilemmas annehmen: Die individuellen Interessen der Organisationseinheiten laufen dem Gesamtinteresse der Organisation entgegen, und kollektive Gewinnpotenziale können aufgrund individueller Rationalitätsüberlegungen der organisatorischen Einheiten nicht realisiert werden. Durch die qualitative Analyse erfolgreicher Prozesse der organisationsinternen Kooperation werden Vorschläge zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit von Organisationseinheiten vor dem Hintergrund sozialer Dilemmata entwickelt.

Theoretische Grundlage: Die Zusammenarbeit von Organisationseinheiten wird anhand zweier Grundformen sozialer Dilemmata aus der sozialwissenschaftlichen Forschung konzeptionalisiert: Die organisationsinterne Zusammenarbeit von Einheiten zur Erzeugung öffentlicher Ressourcen (Olson 1965) sowie im Rahmen der gemeinsamen Nutzung von Poolressourcen (Ostrom 1990). Das Dilemma öffentlicher Ressourcen resultiert aus der Tatsache, dass – einmal bereitgestellt – öffentliche Ressourcen auch von Organisationseinheiten genutzt werden können, die keinen Beitrag zur Bereitstellung geleistet haben („Trittbrettfahrer“). Damit sind die Anreize, sich an der Bereitstellung öffentlicher Ressourcen zu beteiligen, jedoch gering. Poolressourcen sind frei zugänglich, so dass der Konsum gemeinsam genutzter Poolressourcen nicht reguliert werden kann. Da es aus Sicht einzelner Einheiten rational ist, einen möglichst großen Anteil der Ressource zu nutzen, besteht die Gefahr der Übernutzung von Poolressourcen (Hardin 1968). Die organisationsinterne Lösung der Dilemmata muss durch den gezielten Einsatz organisatorischer Steuerungsmechanismen zur Ausgestaltung und Lenkung der Zusammenarbeit geleistet werden.

Untersuchungsdesign: Die Überwindung der Dilemmata der Zusammenarbeit wird mittels eines „cases within-the-case“-Design (Stake 2003) in einem DAX-Unternehmen untersucht. Datengrundlage stellen 44 problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Organisationseinheiten dar. Interviewgegenstand sind Einigungs- und Koordinationsprozesse zwischen Organisationseinheiten bei der Nutzung von Pool- und Erzeugung von öffentlichen Ressourcen.

Analyseverfahren und erste Ergebnisse: Die Auswertung des Datenmaterials basiert auf zwei inhaltsanalytischen Auswertungsverfahren (Mayring & Gläser-Zikuda 2005). Mittels skalierender Strukturierung konnte zunächst gezeigt werden, dass sowohl Pool- als auch öffentliche Ressourcen in Organisationen existieren. Die Übertragung der Ressourcenkonzepte auf den Organisationskontext ist daher sinnvoll. Erste Analysen mittels der inhaltlichen Strukturierung zeigen, dass unterschiedliche Mechanismen zur Steuerung dieser beiden Ressourcenarten in Organisationen geeignet sind. Die Nutzung von Poolressourcen wird tendenziell durch hierarchische Steuerung geleistet. Die Erzeugung öffentlicher Ressourcen wird zwar auch durch hierarchische Steuerung gelenkt, zentral scheint hierbei aber die Koordination der Zusammenarbeit durch die direkt Betroffenen (Selbststeuerung).

Literatur

  • Hardin, Garrett (1968). The tragedy of the commons. Science, 162, 1243-1248.
  • Mayring, Philipp (2003). Qualitative InhaltsanalyseGrundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz.
  • Olson, Mancur (1965). The logic of collective action. Public goods and the theory of groups. Cambridge (Mass): Harvard University Press.
  • Ostrom, Elinor (1990). Governing the commons. The evolution of institutions for collective action. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Stake, Robert E. (2003). Case studies. In Norman K. Denzin & Yvonna S. Lincoln (Hrsg.), Strategies of qualitative inquiry (S.134-163). London: Sage.
  • Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm.

Kontakt: claudia.queisser@wiso.uni-hamburg.de  

Die Organisation niederschwelliger Sozialer Arbeit

Hemma Mayrhofer (Wien, Österreich)

Theoretischer Ausgangspunkt: Folgt man Niklas Luhmanns Theorie Sozialer Systeme, dann ist die funktional differenzierte Gesellschaft insbesondere durch Organisationen diskriminierungsfähig: Organisationen erlangen durch Exklusionsbefugnis und Teilnahmebeschränkungen ihre spezifische Leistungsfähigkeit und inkludieren Personen hochselektiv (vgl. Luhmann 2000, S.392f), wodurch ihnen eine „besondere Bedeutung … für die Entstehung von Hilfsbedürftigkeit“ (Scherr 2001, S.219) zukommt. Zugleich antwortet die moderne Gesellschaft wiederum mit der Bildung von Organisationen, um gesellschaftlich problematische Exklusionsverdichtungen und Exklusionskarrieren zu bearbeiten. Sie handelt sich damit jedoch ein wiederkehrendes Problem ein: Auch Organisationen im Sozialbereich müssen Teilnahmebedingungen für Hilfe festlegen, die den Zugang zu Hilfe einschränken.

Allgemeine Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Problematik stellen Albert Scherr zufolge eine flexible Handhabung von Teilnahmebedingungen und Organisationsformen mit stark reduzierten Anforderungen an die KlientInnen-Rolle dar (vgl. Scherr 2001, S.229). Insbesondere in der sogenannten niederschwelligen Sozialen Arbeit wird versucht, schwer erreichbaren Zielgruppen, an die nur äußerst geringe Anforderungen herangetragen werden können, Zugänge zu sozialer Hilfe anzubieten. Wie Organisationen in der niederschwelligen Sozialen Arbeit diese Aufgabe leisten und welche besonderen Herausforderungen und Paradoxien aus der spezifischen Aufgabenstellung für die Organisation erwachsen, dazu fehlen empirische Forschungen.

Forschungsfrage: In meinem vom Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit der FH Campus Wien geförderten soziologischen Dissertationsprojekt setze ich an diesem Forschungsdesiderat an und gehe in einer empirischen Studie der Frage nach, wie Organisationen, die in der niederschwelligen Sozialen Arbeit tätig sind, die Bearbeitung von sozial relevanten Exklusionsproblemen leisten, in welchen unterschiedlichen Formen sie diese Leistung erbringen und mit welchen charakteristischen Paradoxien und Grenzen sie umgehen müssen.

Methodik: Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die internen Beobachtungs- und Handlungslogiken des Bereichs der niederschwelligen Sozialen Arbeit allgemein und der diesem Bereich zurechenbaren Organisationen bzw. Projekte im Besonderen. Eine Orientierung an der Methodologie der qualitativ-interpretativen Sozialforschung soll gewährleisten, dass im Forschungsprozess die Komplexität der untersuchten Systeme mit ihren eigendynamischen inneren Strukturen und Prozessen ausreichend Berücksichtigung findet (vgl. Froschauer & Lueger 2003, Lueger 2000).

Als Erhebungsmethoden kommen qualitative, unstrukturierte Interviews und Gruppendiskussionen zum Einsatz. Geplant ist, die unterschiedlichen Akteursebenen innerhalb der Organisationen bzw. Projekte in die Datenerhebung einzubeziehen. Ergänzend werden im explorativen Teil Online-Dokumente für Artefaktanalysen herangezogen, um in der Orientierungsphase „systematisch Wissen über das Forschungsfeld zu erweitern“ (Lueger 2000, S.143).

Die Datenanalyse orientiert sich an sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Verfahren, wie sie von Froschauer und Lueger entwickelt wurden. Geplant sind Feinstrukturanalysen, Systemanalysen, Artefakt- und Strukturdatenanalysen (vgl. Froschauer & Lueger 2003, Lueger 2000).

Aktueller Projektstand: Die explorative Forschungsphase ist nahezu abgeschlossen, sodass auf dem Poster neben der Anlage der empirischen Studie auch bereits erste zentrale Zwischenergebnisse präsentiert werden sollen.

Literatur

  • Froschauer, Ulrike & Lueger, Manfred (2003). Das qualitative Interview. Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme. Wien: WUV
  • Luhmann, Niklas (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdt. Verlag
  • Lueger, Manfred (2000). Grundlagen qualitativer Feldforschung. Wien: WUV
  • Scherr, Albert (2001). Soziale Arbeit als organisierte Hilfe in der funktional differenzierten Gesellschaft. In: Tacke, Veronika (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung (S.215-235). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Kontakt: hemma.mayrhofer@fh-campuswien.ac.at

Beteiligungsorientierte Modernisierung von Wissensarbeit in Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege

Stephan Schumacher (Reutlingen)

Thema: Die Arbeit in Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens basiert wesentlich auf Wissen. Dieses Wissen ist eine notwendige Voraussetzung, um Organisationen zu steuern und konkurrenzfähige Dienstleistungen anzubieten. Dabei wird auf unterschiedliche Wissensquellen zurückgegriffen. Eine zentrale Quelle sind die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, denen der Großteil dieser Organisationen angehören. Neben ihrer Vertretungsfunktion unterstützen die Verbände die Mitglieder mit Wissensdienstleistungen und Plattformen.

Forschungspartner sind im Rahmen des Dissertationsvorhabens zwei Spitzenverbände: Das Diakonische Werk Württemberg (Handlungsfeld Jugendhilfe) und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg (Handlungsfeld Altenhilfe).

Forschungsfragen: Welche Rahmenbedingungen, welches Wissen, welche Wissensquellen sind für die Mitglieder von Relevanz? Welches Wissen bietet der Verband an? Wie kann dieses Wissen strukturiert werden? Welche Methoden des Wissensaustausches werden eingesetzt? Wie gestalten sich Strukturen und Beteiligungsprozesse? Wie bewerten die Mitglieder das Wissensangebot (Wissen und Methoden), die Wissenskultur und Strukturen des Verbandes? Wie werden Beteiligungsmöglichkeiten beurteilt? Wie gestaltet sich beteiligungsorientierte Wissensarbeit?

Theorie / Rahmen: Theoretisch erarbeitet wurden Grundlagen zur Verbändeforschung, Wissensmodelle, Beteiligungsformen und Modernisierungsansätze. Im Fokus der Arbeit steht der organisationale Umgang mit Wissen. Im Rahmen der Analyse wurde auf das Wissensmanagementmodell nach Probst (1999) zurückgegriffen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wurde auf Grundlage der Definitionen von Wilke (1998) und Wilkesmann (2005) ein Modell der „Wissensarbeit in Verbänden“ entwickelt.

Methode: Leitfadengestützte Experteninterviews mit Referenten der Verbands-Geschäftsstellen zur Orientierung im verbandlichen Forschungsfeld, der systematischen und modell-orientierten Erhebung des Handlungs- und Erfahrungswissens im Hinblick auf den Umgang mit Wissens im Verband und der Generierung erster Theorien und Definitionen für den weiteren Forschungsverlauf im Rahmen einer Vorauswertung.

Leitfadengestützte Experteninterviews mit Führungskräften der Mitglieder zur Überprüfung erster Befragungsergebnisse der Geschäftsstelle (aus Vorauswertung), die modell-orientierte Erhebung des Handlungs- und Erfahrungswissens der Führungskräfte im Bezug auf den Umgang der Mitglieder und des Verbandes mit Wissen. Generierung von weiteren Theorien. 

Die Durchführung der Experteninterviews ist abgeschlossen. Im Rahmen der Auswertung wurden die Interviews transkribiert. Erste Interviews wurden mit Hilfe einer Textanalyse-Software codiert.

Ergebnisse: Das Poster zeigt das Thema, die Fragestellung und das Forschungsdesign. Auf Grundlage der Literaturrecherche und der Vorauswertung wird die Kategorisierung von relevantem Wissen und ein erstes Modell beteiligungsorientierter Wissensarbeit präsentiert.

Diskussion: Nach der Transkription und der Codierung der ersten Interviews mit der Textanalyse-Software MAXqda2 besteht Unsicherheit über das weitere Verfahren der Datenauswertung und Dateninterpretation. Verfahrenvarianten sollen diskutiert werden.

Kontakt: stephan.schumacher@student.uni-tuebingen.de

IDIP – Innovations Dynamics in Practice

Patricia Wolf, Pierre-Yves Kocher & Lukas Scheiber (Luzern, Schweiz)

Forschungskontext:Innovationen gelten als grundsätzlich positiv konnotiert (Rammert 1997). Unternehmen setzen vor allem auf Planbarkeit und Kontrolle von Innovationsprozessen und erhoffen sich durch die Routinisierung von Ideengenerierung und deren Implementierung einen reibungslosen Strom an Innovationen. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich Innovationsprozesse jedoch als nicht komplikationenfrei. Vielmehr muss mit „Unsicherheit und Widerstand“ (Schumpeter 1993, S.128) gerechnet werden. Zudem werden Vorstellungen über lineare und sequentielle Prozessabläufe den Vorgängen in komplexen Organisationen nicht gerecht (Luhmann 2000; S.39ff).

Forschungsfrage: Im Rahmen des Forschungsprojekts wird untersucht, welche Innovationsdynamiken in der unternehmerischen Praxis vorliegen und entlang welcher organisationaler Bedingungen (Beziehungs-, Kommunikations- und Sinnstrukturen) Unsicherheiten und Widerstände überwunden werden.

Vorgehen und Methode: Die formulierte Forschungsfrage soll anhand von Fallstudien, welche in Form des Multiple Case Design (Yin 2003) zum Einsatz kommen, beantwortet werden.

In einer ersten Projektphase wurde anhand von Interviews mit Innovationsintermediären ein erster Zugang zum Forschungsfeld gelegt und ein Unternehmenspool aufgebaut. Aus diesem Sample wurden mit denjenigen Führungskräften (16 CEO’s) problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) geführt, deren Unternehmen durch die Innovationsintermediäre als innovativ beurteilt worden waren. Weitere Auswahlkriterien waren ihre Mindestgröße, eine längere Historie und ihre Zugehörigkeit zur Wirtschaftsregion Zentralschweiz. Diese Interviews wurden themenanalytisch ausgewertet (Froschauer & Lueger 2003).

In einer zweiten Projektphase erfolgte die Auswahl von vier Unternehmen als Fallstudienpartner. Diese wurden so ausgewählt, dass ein möglichst heterogenes Sample entstehen konnte. Die Unternehmen sollten sich bezüglich Größe, Branchenzugehörigkeit und den aus den Führungsinterviews erarbeiteten „Innovationsdynamiken“ unterscheiden (theoretical sampling). Forschungsergebnisse, die sich auf Grund der angestrebten Fallstudienvergleiche durch „Gleichheit in der Verschiedenheit“ auszeichnen, sollen vor allem eine „external generalizability“ (Yin 2003, S.53) ermöglichen.

Fallstudien: Das methodische Vorgehen bei der Datenerhebung ist innerhalb der jeweiligen Unternehmen als Triangulation auf Methoden-, Investigator- und Interpretationsebene angelegt (Denzin 1970, S.300).

Fallstudie 1 (Nahrungsmittelproduzent): Sitzungsbeobachtungen von Innovationsteams und Leitfadeninterviews mit den am Innovationsprozess beteiligten Mitarbeitenden.

Fallstudie 2 (Medizinaltechnik): Dokumentenanalyse zur Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses eines heute auf dem Markt erfolgreich positionierten Geräts und narrative Interviews mit den am Prozess beteiligten Mitarbeitenden.

Fallstudie 3 (Produktionsbetrieb): Dokumentenanalyse über die Einsetzung und Wirkung eines Teams, das die Innovationskultur in der ganzen Unternehmung beleben soll. Leitfadeninterviews mit Mitgliedern der Organisation über die Wahrnehmung des Teams und Beurteilung des Erfolgs der durchgeführten Maßnahmen.

Fallstudie 4 (Dienstleistungsunternehmen): N.N.

Diskussion: Zur Diskussion gestellt wird vor allem, ob das gewählte methodische Vorgehen die Beobachtung und Beschreibung des Konstrukts „Innovation“ und seiner Dynamiken in Organisationen erlaubt. Einerseits erscheint innerhalb der Fallstudien der Umgang mit Rekonstruktion und aktueller Begleitung von Innovationsprozessen aus zeitlicher Perspektive problematisch (Erinnern, Vergessen und Gedächtnis von Organisation). Andererseits gilt es zu diskutieren, ob der Vergleich der Einzelfallstudien die Möglichkeit bietet, gültige Aussagen über die organisationalen Bedingungen von Innovationsprozessen zu treffen.

Literatur:

  • Denzin, Norman K. (1970). The research act. Chicago: Aldine.
  • Froschauer, Ulrike & Lueger, Manfred (2003). Das qualitative Interview – Zur Praxis interpretativer Analyse sozialer Systeme. Wien: Facultas.
  • Luhmann, Niklas (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Rammert, Werner (1997). Innovation im Netz. http://www.tu-berlin.de/fb7/ifs/soziologie/Crew/rammert/articles/Innovation_im_Netz.html (04.04.2008, broken link).
  • Schumpeter, Joseph Alois (1993). Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (7., erw. Aufl.), Tübingen: Francke.
  • Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm.
  • Yin, Robert K. (2003). Case study research – design and methods (3. Aufl.). Newbury: Sage.

Kontakt: patricia.wolf@hslu.ch  

Überwertiger Realismus und Menschenfeindlichkeit

Veronika Schmid (Marburg)

Ausgangspunkt und Forschungsfrage: In dem Dissertationsprojekt soll empirisch der Frage nachgegangen werden, welche Logik dem Syndrom „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2002) zugrunde liegt. Unter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist die gleichförmige Abwertung von „normabweichenden“ Gruppen, wie z.B. Zugewanderten, Homosexuellen oder Menschen anderen Glaubens zu verstehen. „Überwertiger Realismus“ soll als ein mögliches heuristisches Erklärungsmodell von Menschenfeindlichkeit skizziert werden, das bei der negativen Bewertung von Minderheiten und nonkonformen Gruppen bedeutsam sein kann.

Theoretischer Hintergrund: Überwertiger Realismus soll als eine unspezifische Vorurteilsbereitschaft gedeutet werden, die sich daraus ergibt, dass ein gesellschaftlich geforderter Verzicht auf Autonomie immer weniger durch Formen von Anerkennung gesellschaftlich kompensiert wird. Dieser Widerspruch wird vom Individuum dadurch gelöst, dass die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt und die heteronomen Realitätsanforderungen überaffirmiert werden. Adorno (1971) verwendet hierfür den Begriff „überwertiger  Realismus“. Aufgrund der gesellschaftlich uneingelösten Kompensationsversprechungen und dem Verdrängen eigener Bedürfnisse entsteht für den „überwertigen Realisten“ eine latente Reizbarkeit angesichts fremder Lebensentwürfe, weil diese nahelegen, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft möglicherweise auch anders ausgehandelt werden könnte.

Methode: Methodisch ist geplant, problemzentrierte Interviews (Witzel 1982, 2000) zu führen, um in einem ersten Schritt die lebensgeschichtliche Bedeutung des Autonomie/Anpassungs-Konfliktes und die hierbei jeweils angewandten Handlungsstrategien zu rekonstruieren. Die Daten sollen inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Typische Konfliktsituationen werden in einem zweiten Schritt zu Fallvignetten verdichtet und dann in weiteren Einzelinterviews eingesetzt. Den Untersuchungsteilnehmenden sollen mehrere derartige strukturidentische Geschichten vorgelegt werden; es wird also stets der gleiche Konflikt in unterschiedlichen Abwandlungen dargestellt: Die Protagonisten der Geschichte werden mit der Entscheidung konfrontiert, sich entweder den Realitätsanforderungen anzupassen oder sich nonkonformistisch zu verhalten (mögliche Konfliktsituationen wären z.B. Berufswahl/-wechsel, Coming-Out, Ehescheidung etc.). Die Interviewteilnehmenden werden aufgefordert, den Protagonisten der Geschichte bei seiner Entscheidung zu beraten und ihn zu bewerten. Anschließend wird berichtet, wie sich der Protagonist entschieden hat, daran schließt sich die Aufforderung einer erneuten Bewertung an. Systematisch variiert wird in den Vignetten u.a. die Zugehörigkeit des Protagonisten zur Mehrheit bzw. Minderheit und die von ihm getroffene Entscheidung für oder gegen Anpassung.

Literatur

  • Adorno, Theodor, W. (1971). Erziehung – wozu?, in ders., Erziehung zur Mündigkeit (S.105-119). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2002). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. Deutsche Zustände. Folge 1, 15-36.
  • Witzel, Andreas (1982). Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt/M.: Campus.
  • Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1). http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm.

Kontakt: schmidve@staff.uni-marburg.de

Politik für Menschen mit Behinderung in Österreich

Angela Wegschneider (Linz, Österreich)

Forschungskontext:Das Dissertationsvorhaben setzt sich mit Interaktionen der AkteurInnen und dem Innovationspotential der Politik für Menschen mit Behinderung im österreichischen Wohlfahrtsstaat auseinander. Soziale und politische Normensysteme, wie die Organisation dieser Querschnittsthematik sind historisch gewachsen und ideologisch besetzt. Somit kann angenommen werden, dass tradierte und ideologisch geprägte Einstellungen der unterschiedlichen politischen Kohorten in der Ausgestaltung der Gesetze und Maßnahmen eine gewichtige Rolle spielen.

Ausgangspunkt:Die typische Person mit Behinderung gibt es nicht. Zudem sind die Bedürfnisse und Lebenslagen der Betroffenen höchst unterschiedlich. Seit zwei Dekaden soll auch in Österreich ein Paradigmenwechsel stattfinden, so die Annahme, da Menschen mit Behinderung nicht mehr ausschließlich als „Zielgruppe“ der sozialpolitischen Agenda gesehen werden.

Forschungsfragen:Die Fragestellungen beziehen sich einerseits auf Begrifflichkeiten und soziale Zuschreibungen von Behinderung und Politik für Menschen mit Behinderung sowie auf die Analyse der Handlungsmaxime und tradierten und ideologischen Verortungen der AkteurInnen (PolitikerInnen, BeamtInnen und InteressensvertreterInnen). Andererseits werden die hauptsächlichen Faktoren, die die politische Innovation fördern bzw. hemmen (Interaktion, Partizipation und Innovation) untersucht.

Methodik:Um komplexe Prozesse mit Hilfe von nachvollziehbaren Beschreibungen zu enthüllen, wird die Grounded Theory Methodologie (nach Strauss und Corbin) mit ihrer offenen und zirkulären Konzeption in Verbindung mit der Mechanismenanalyse als transdisziplinäres, heuristisches Analyseinstrument angewendet, das theoriegeleitete, komplexe Erklärungsmodelle erzeugen kann.

Anlage der Studie:Durch erste explorative Feldforschungen und Recherchetätigkeiten werden grundlegende Kenntnisse zu dem behinderungspolitischen Diskurs in Österreich im Rahmen des analytischen Bezugrahmens erörtert (theoretische Sensibilität). Dieses Vorwissen ist Ausgangspunkt für neue Recherchen, die zur Auswahl der AkteurInnen führen. Nach den ersten inhaltsanalytischen Auswertungen wird versucht, Kategorien zu entwickeln und diese zu verdichten, indem Auswertungen und Datenerhebungen gleichzeitig stattfinden. Dieser Kreislauf wird sich im Laufe dieses Jahres einige Male wiederholen, bis die theoretische Sättigung eintritt.

Ergebnisse: Erste Erkenntnisse zeigen, dass in Österreich Politik für Menschen mit Behinderung im politischen Verständnis keinen integrierten Stellenwert hat. Politik für Menschen mit Behinderung ist eher ein politisches Randthema und weniger partizipationsorientierte Querschnittsthematik. Generell wird Behinderung erst zu einem politisch relevanten Thema, sobald die Öffentlichkeit durch die Medien mit Skandalen oder unerträglichen Missständen, in denen Menschen mit Behinderung Betroffene sind, konfrontiert wird, beispielsweise beim Pflegeskandal in Lainz im Jahr 1989. In Österreich ist Behindertenpolitik eher Anlasspolitik.

Diskussion:Ob die Mechanismenanalyse in diesem Forschungsvorhaben ein transdisziplinäres, heuristisches Hilfsinstrument ist, das theoriegeleitete, komplexe Erklärungsmodelle erzeugen kann, muss zu diesem Zeitpunkt noch offen bleiben, da ich gerade am Beginn der empirischen Erhebungsphase stehe. Gemeinsam mit der Grounded Theory Methodologie könnte die Analysemethode der Aufklärung unentdeckter Prozesse und Strukturen dienen, gleichzeitig Theorie generieren und unterstützen, diese schematisch darzustellen. Generell ist die wirklichkeitsgetreue Abbildung komplexer, sozialer Phänomene schwierig, mir erscheint aber gerade die Mechanismenanalyse als ein sehr brauchbares Instrument der Rekonstruktion sozialer Erscheinungen.

Kontakt: angela.wegscheider@jku.at

Die Sendeform magazine multiculturel als Ort der Begegnung: Konversationsanalytische Betrachtung eines (Medien-) Gesprächs

Christine Reum (Mannheim)

Forschungskontext und Erkenntnisinteresse: Die unsselbstverständlichste Form der zwischenmenschlichen Kommunikation, das Gespräch, ist zugleich Ursprung und Zeugnis der gemeinsamen Herstellung sozialer Realität. Bei der dialogischen Überwindung kultureller und sprachlicher Barrieren in heterogenen Gesellschaften können Medien durch spezielle Sendekonzepte eine Plattform für den interkulturellen Austausch bieten. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse von Gesprächen im Rahmen einer gemeinsam moderierten Sendung ermöglicht es, den Äther als Ort der Begegnung zu studieren sowie Spezifika und Potentiale einer solchen Interaktion zu analysieren.

Ausgangspunkt: Der in Montreal (Kanada) etablierte multikulturelle und mehrsprachige Community-Radiosender „Radio Centreville“ produziert seit nahezu drei Jahren wöchentlich die 75-minütige Diskussionssendung „Montréal sans accent“ in französischer Sprache. Ziel ist es, den Austausch zwischen den sprachlichen Gruppen in der Gesellschaft, der sich auch in der Organisation der Mitarbeiter widerspiegelt, zu stärken. Vertreter der verschiedenen équipes stellen Themen aus ihrem jeweiligen Kultur- und Interessensbereich vor, die sie dann spontan mit ihren Mitmoderatoren diskutieren. Dies stellt die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor die Aufgabe, live einen Dialog zu führen, bei dem sie sowohl unterschiedliche Wissensstände als auch manifeste kulturelle und sprachliche Hindernisse zu überwinden haben.

Material, Korpus und Forschungsfragen: Das Interesse der Analyse gilt besonders den spontanen und frei formulierten dyadischen oder triadischen Interaktionen. Das Korpus besteht aus Sequenzen von neun auf Video aufgezeichneten Sendungen aus dem Jahr 2007. Anhand der in Partiturschreibweise transkribierten multimodalen Daten sollen folgende Fragen bearbeitet werden: (a) Wie werden auf formaler Ebene die auditiven turn-taking-Mechanismen durch den visuellen Kanal erweitert? Welche Rolle spielt die sequenzielle Anordnung der Ressourcen? (b) Welche formalen Ressourcen entwickeln die Beteiligten und wie werden sie genutzt (auch im Hinblick auf eine mediengerechte Präsentation)? (c) Wird über die formale Interaktion auch eine semantische Auseinandersetzung erreicht? (d) Wie werden die formalen Ressourcen genutzt, um auch auf semantischer Ebene Konvergenz zu erzeugen?

Vorläufige Ergebnisse und Diskussion: Zunächst ist die Bedeutung der visuellen Informationen als Ressource für die Gestaltung des Dialogs auffällig. Darüber hinaus kann feststellt werden, dass die Beteiligten ein für Mediengespräche hohes Niveau an Interaktion auf Gesprächsebene und für die lokale Organisation einzelner Beiträge als Norm etablieren. Die Mechanismen, mit denen die Moderatoren die Beiträge gemeinsam formulieren und bearbeiten, sollen schematisiert und in ihrer Funktionalität dargestellt werden: Es wird nicht nur die Verbalisierungsarbeit vielfach gemeinsam geleistet (Collaborative turn sequences, Lerner 2002; Coénonciation, Jeanneret 1999), sondern auch diverse Formen der (kollektiven) Reformulierung und der Redekommentierung (Gülich & Kotschi 1987) scheinen charakteristisch für die Interaktion auf formaler und semantischer Ebene zu sein.

Das Poster wird die Konzeption der Forschungsarbeit und erste Teilergebnisse präsentieren sowie Materialien und Methoden durch Interaktionsbeispiele aus dem Korpus (mit deutscher Übersetzung) veranschaulichen.

Literatur

  • Gülich, Elisabeth & Kotschi, Thomas (1987). Reformulierungshandlungen als Mittel der Textkonstitution. Untersuchungen zu französischen Texten aus mündlicher Kommunikation. In Wolfgang Motsch (Hrsg.), Satz, Text, sprachliche Handlung (S.199-268). Berlin: Akademieverlag.
  • Jeanneret, Térèse (1999). La coénonciation en français. Approches discursive, conversationnelle et syntaxique. Bern: Peter Lang.
  • Lerner, Gene H. (2004). Collaborative turn sequences. InGene H. Lerner (Hrsg.), Conversation analysis. Studies from the first generation (S. 225-256). Amsterdam: John Benjamins Publishing Company.

Kontakt: christinereum@yahoo.com

Zum subjektiven Sportverständnis jugendlicher Leistungssportler. Erarbeitung einer empirisch begründeten Typologie

Sandra Polchow (Potsdam)

Ausgangspunkt: Bei der vorliegenden Präsentation handelt es sich um die Darstellung eines Dissertations-vorhabens, das sich momentan in der Phase der vertiefenden Datenauswertung befindet. Das Projekt widmet sich in einer Sekundäranalyse einem bereits erhobenen Datensatz, der im Rahmen des Forschungsprojekts „Zum Sportverständnis von Jugendlichen – Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen?“ des Bundesinstituts für Sportwissenschaft erhoben wurde. (Das Projekt wurde unter Leitung von Prof. Baur und Prof. Burrmann im Zeitraum 2004-2006 am Arbeitsbereich Sportsoziologie/Sportanthropologie des Sportinstituts der Universität Potsdam bearbeitet und ist inzwischen abgeschlossen). Einzelfallanalytische Auswertungen einer spezifischen Teilstichprobe aus der Gesamtuntersuchung wurden im Rahmen des Forschungsprojekts nicht vorgenommen. Die Arbeit soll eine Forschungslücke schließen, denn bisher fehlt es den (vorwiegend quantitativen) Analysen zu Sportbeteiligungen Jugendlicher an einer ausreichenden Tiefenschärfe der Befunde zum Sportverständnis.

Forschungsanliegen/-frage: Das Dissertationsvorhaben, das in der Postersession vorgestellt wird, geht der Frage nach, welche subjektive Sicht (Innenperspektive) jugendliche Leistungssportler auf ihre eigene(n) Sportbeteiligung(en) (Handlungsebene) einnehmen, und welche Abgrenzungen sie gegenüber den Sportkonzepten Anderer, „normal“ sportlich aktiven Vereinssportlern, Freizeitsportlern und sportlich Inaktiven (Nichtsportlern) vornehmen.

Theoretische Rahmensetzung:Anhand der sehr stark kanalisierten Sportpraxen jugendlicher Leistungssportler ließe sich annehmen, dass gerade diese Athleten sehr „enge“ Vorstellungen davon haben, was sie als „Sport“ definieren. Orientiert an den konstitutiven Merkmalen des traditionellen Wettkampfsports stehen das Konkurrenzprinzip, Erfolgs- und Leistungsorientierung, festes Regelwerk sowie regelmäßige Trainings- und Wettkampfteilnahmen zwar weiterhin im Zentrum der Sportverständnisse der Leistungssportler, doch lassen sich – entgegen der Annahme einer engen Begriffsauslegung – vielfältige Ausweitungen in den Sportverständnissen erkennen, die analog zu den Ausdifferenzierungen und Pluralisierungstendenzen in den anderen Sportkontexten auch Einzug in das Feld des Leistungssports erhalten. 

Art des Materials: Es liegen insgesamt 50 leitfadengestützte Interviews (Leistungssportler N=12) vor. Zur  Auswahl der Interviewpersonen wurden Primär- und Sekundärkriterien bestimmt, die über eine quantitative Fragebogenerhebung (N=205) abgefragt wurden. Von jeder Interviewperson liegt somit ein Datensatz mit soziodemografischen Angaben, Items zur Sportbiographie, zum sportlichen Selbstkonzept, zur individuellen Sportkarriere oder auch Sportabstinenz vor. Regional beschränkte sich das Projekt auf das Land Brandenburg, einbezogen wurden sieben Schulen – davon drei „Eliteschulen des Sports“ – mit gymnasialer Oberstufe. Die Befragung erfolgte in der zwölften Klassenstufe.

Methodisches Vorgehen:Die Materialauswertung und Bearbeitung wird mit MAXqda2 vorgenommen. Für das Dissertationsvorhaben bietet sich eine anteilige Übernahme des Codesystems an. Es erscheint jedoch sinnvoll, Überarbeitungen vorzunehmen und bisher thematisch zu grob zusammengefasste Aussagen stärker zu dimensionieren.

Auf der Basis des bereits im Projekt erarbeiteten Codesystems werden derzeit Anpassungen an die Dissertationsfragestellung vorgenommen, indem eine erneute Betrachtung (Offenheit) der Interviewdaten durchgeführt wird, um die unterschiedlichen Dimensionen einiger Codes genauer zu erfassen und aufzuschlüsseln. Ziel ist es, auf Grundlage dieses spezifizierten Codesystems anhand von exemplarischen Fällen (Fallstudie) die jeweiligen Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen in den individuellen Sportkonzepte der „Leistungssportler“ herauszuarbeiten und diese zu systematisieren (interner Vergleich). Lassen sich anhand der (a) verschiedenen Ausprägungen und (b) der unterschiedlichen Einbindung der Sportengagements in die jeweilige Lebensführung wiederkehrende Typen subjektiver Sportverständnisse herausarbeiten?

Durch den Fokus auf die Extremgruppe jugendlicher Leistungssportler verspricht sich die Autorin – durch den hohen Stellenwert der sportlichen Aktivität in der Lebensführung der Athleten – sehr genaue Beschreibungen der individuellen Sportbeteiligungen zu erhalten. Anhand der gegebenen Beschreibungen sollen aktuell „gültige“ Kategorien und Dimensionen der Sportkonzepte erarbeitet werden. Durch das Herausarbeiten der Tiefenstrukturen, die der sportlichen Praxis zu Grunde liegen, werden die in den Habitus einfließenden Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster (Bourdieu, 1987, 1986), die das sportliche Handeln unbewusst determinieren, für die Analyse freigelegt.

In der Postersession werden Zwischenbefunde der Teilstichprobe Leistungssportler (N=12) dargestellt und das weitere methodische Vorgehen soll angesprochen und diskutiert werden.

Literatur

  • Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Bourdieu, Pierre (1986). Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports. In Gerd Hortleder & Gunter Gebauer (Hrsg.), Sport – Eros – Tod (S.91-112) ). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Burrmann, U. (2007). Zum Sportverständnis von Jugendlichen – Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen?. Köln: Sport und Buch Strauß.
  • Kelle, Udo & Kluge, Susann (1999): Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.
  • Kluge, Susann (1999). Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.
  • Polchow, Sandra (2005). Zum subjektiven Sportverständnis von Jugendlichen. In Udo Kuckartz (Hrsg.), Tagungsband zur CAQD 2005, 10.-11.März, 2005. Institut für Erziehungswissenschaft (S.70-82). Marburg: Philipps-Universität.
  • Polchow, Sandra & Rübner, Anne (2007). Kurzportraits. In Ulrike Burrmann (Hrsg.). Zum Sportverständnis von Jugendlichen – Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? (S.85-111). Köln: Sport und Buch Strauß.

Kontakt: polchow@uni-potsdam.de  

Untersuchung von Versorgungskarrieren im Gesundheitssystem mit dem Ansatz der Grounded-Theory-Methodologie

Anja Bargfrede (Berlin)

Forschungskontext: Versorgungskarrieren im Gesundheitssystem sind gekennzeichnet durch eine Abfolge durchlaufener Instanzen, (ergebnislosen) Suchbewegungen und Irrwegen, ohne das eine adäquate Antwort auf die Bedürfnisse der PatientInnen bereit gestellt wird (vgl. hierzu Schaeffer 2004). Dieses Phänomen der Ausprägung von Versorgungskarrieren ist bei PatientInnen mit umweltbezogenen Gesundheitsstörungen zu beobachten. Kennzeichnend für die Situation dieser PatientInnen ist die Benennung von mehreren Symptomen, denen ein Umweltbezug zugeschrieben wird. Die in der Praxis (und Forschung) bekannte Tendenz zur Chronifizierung (ihrer Leiden) wirft die Frage auf, wie die Versorgungssituation dieser PatientInnen charakterisiert werden kann. Welche Einflussfaktoren wirken während des Prozesses der Ausprägung einer Versorgungskarriere?

Design und Methoden: Grundlage zur Beantwortung der Forschungsfrage ist die Annahme eines bestehenden Versorgungsdreiecks in der Umweltmedizin, in welchem die PatientInnen und die Versorgungseinrichtungen (Leistungserbringer) die Hauptakteure sind und Versicherungsträger/Hotlines als intervenierende Akteure auftreten.

Anhand einer Fallstudie wird die Fragestellung mittels der Grounded Theory Methodologie (Strauss & Corbin 1996) untersucht. Dazu wurden narrativ-biografische Interviews mit PatientInnen mit einer Versorgungskarriere geführt und problemzentrierte Interviews mit VertreterInnen von Versorgungseinrichtungen, Versicherungsträgern und Hotlines. Bei der Fallauswahl wurde dem Theoretical Sampling (Glaser & Strauss 1967) gefolgt. Die Arbeit war in der Tradition von Forschungswerkstätten in zwei Interpretationsgruppen eingebunden, eine davon ist die NetzWerkstatt (www.methodenbegleitung.de) des Instituts für Qualitative Forschung an der Freien Universität Berlin. Zur Unterstützung der Auswertung der Daten wurde mit MAXqda® gearbeitet.

Ergebnisse:Das Poster zeigt, unter welchen Bedingungen es bei PatientInnen mit umweltbezogenen Gesundheitsstörungen zur Ausprägung einer Versorgungskarriere kommt. Von den PatientInnen ist im Prozess ihrer Erkrankung Orientierungsarbeit zu leisten. Die fehlende Diagnose bzw. Ätiologie, das (fehlende) Wissen um Versorgungsstrukturen und die erlebte Akzeptanz bei ihren Suchbewegungen konnten als wichtigste Einflussfaktoren dieser Orientierungsleistung im Versorgungssystem herausgearbeitet werden. Die PatientInnen haben dabei unterschiedliche Bewältigungsstrategien im Umgang mit ihrer Gesundheitsstörung entwickelt. Herausgearbeitet werden konnten ferner der Einfluss der Qualität der Kommunikation des Untersuchungsganges durch die Leistungserbringer, der soziodemografischen Merkmale der PatientInnen, der Integration des psychosozialen Aspektes der Erkrankung sowie die Rolle der Umwelt als Projektionsfeld auf den Erfolg der Orientierungsarbeit. Eine Anlaufstelle für die Betroffenen könnte die derzeitige strukturelle Lücke innerhalb ihrer gesundheitlichen Versorgung schließen und helfen, Chronifizierungen entgegenzuwirken.

Diskussion: Wie die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, ist jede Versorgungskarriere von PatientInnen mit umweltbezogenen Gesundheitsstörungen spezifisch. Deshalb sollte ein Ansatz zur Vermeidung von Versorgungskarrieren das in der aktuellen Delphi-Zukunftsstudie aus Japan (National Institute of Science and Technology Policy 2005, S.61) entwickelte Szenario der „individualisierten Medizin“ aufgreifen. Eine entscheidende Herausforderung besteht dabei in einem differenzierten Informationsmanagement sowohl zwischen den professionellen AkteurInnen und den PatientInnen als auch innerhalb des Versorgungssystems (TAB 2006), um den Prozess der Orientierungsarbeit positiv zu begleiten.

Literatur:

  • Glaser Barney G. & Strauss Anselm L. (1967). The discovery of grounded theory; strategies for qualitative research. Chicago: Aldine Pub. Co.
  • Hüsing Bärbel (2006). Vom individuellen Risikoprofil zur maßgeschneiderten Therapie? TAB-Brief Nr. 29, 41-42.
  • National Institute of Science and Technology Policy (2005). Comprehensive analysis of science and technology benchmarking and foresight. NISTEP Report No. 99. Tokyo, Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology
  • Schaeffer Doris (2004). Der Patient als Nutzer. Bern: Hans Huber.
  • Strauss Anselm L. & Corbin Juliet (1996). Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz/PVU. (Original 1990)

Kontaktanja.bargfrede@alumni.tu-berlin.de

Die Organisation von Anerkennung

Linda Nierling (Karlsruhe)

Forschungskontext: Aktuelle Entwicklungen im Feld der Erwerbsarbeit weisen auf tief greifende Umbrüche in der individuellen Lebensführung hin. Während die Rahmenbedingungen im Beschäftigungskontext unsicherer und zunehmend flexibler werden, wachsen insbesondere in hoch qualifizierten Berufen die Ansprüche an eine Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit.

Ausgangspunkt: Ausgehend von dieser Entwicklung verändern sich traditionelle Arrangements von Arbeit und Leben. Die Verbindung der beiden Sphären wird in vielfältigen individuellen Arrangements zwar geleistet, doch scheint die Schwerpunktsetzung eindeutig auf Erwerbsarbeit zu liegen, während andere Tätigkeiten in der individuellen und gesellschaftlichen Präferenz zunehmend an Bedeutung verlieren. Der gegenwärtige in der Diskussion vorherrschende Blick auf Arbeit, der sich nur auf das Feld der Erwerbsarbeit begrenzt und notwendige Tätigkeiten aus dem Bereich des „Lebens“ nicht integriert, greift dementsprechend zu kurz, um aktuelle gesellschaftliche Problemlagen zu beschreiben. Notwendig wird daher ein Arbeitsbegriff, der das „Ganze der Arbeit“ (Biesecker 2000), d.h. Arbeit und Leben umfasst. Bisher hat sich ein solches Verständnis von Arbeit nicht durchsetzen können, vielmehr ist die individuelle und gesellschaftsweite Orientierung an der Erwerbsarbeit bei beiden Geschlechtern sehr hoch.

Forschungshypothesen und -fragen: In dem hier vorgestellten Promotionsvorhaben wird die These zugrunde gelegt, dass unterschiedliche Modi von Anerkennung und Anerkennungsstrukturen von verschiedenen Tätigkeitsformen zu dieser Entwicklung entscheidend beitragen. Anerkennung wird hierbei als wesentliches Kriterium für individuelles Handeln und gesellschaftliche Prozesse verstanden.

In einer theoriegeleiteten Gegenüberstellung der Anerkennungsstrukturen von Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten wird deutlich, dass sich Anerkennung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen fassen lässt. Während sich Tätigkeiten, die der Nicht-Erwerbsarbeit zuzuschreiben sind, eher auf der intersubjektiven und gesellschaftlichen Ebene Anerkennung erfahren, so ist Anerkennung im Feld der Erwerbsarbeit stark organisational eingebettet und formalisiert (vgl. Nierling 2008).

Anlage der Studie: In einer empirischen Erhebung soll mittels Interview-Fallstudien überprüft werden, wie Organisationsstrukturen in die Anerkennung von Tätigkeiten hineinwirken und wie die Anerkennung von Tätigkeiten aus dem Bereich der Nicht-Erwerbsarbeit sowohl in der Binnenperspektive als auch in der Außenwahrnehmung von bestehenden Organisationen entsteht.

Literatur

  • Biesecker Adelheid (2000). Kooperative Vielfalt und das „Ganze der Arbeit“. Überlegungen zu einem erweiterten Arbeitsbegriff. Berlin: WZB.
  • Nierling Linda (2008, im Druck). Die Anerkennung von ‚Arbeit‘ in der Erwerbsarbeit und der Nicht-Erwerbsarbeit. In Gerrit Herlyn et. al. (Hrsg.), Arbeit und Nicht-Arbeit. Entgrenzungen und Begrenzungen von Lebensbereichen und Praxen. Mering: Rainer Hampp.

Kontakt: nierling@itas.fzk.de / http://www.itas.fzk.de

Luhmanns tools

Anna Henkel (Witten/Herdecke)

Ziel: Diskussion zur Verknüpfung von Systemtheorie und empirischer Sozialforschung: Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann birgt – so die These – ein vielfältiges Repertoire an Werkzeugen, die als Methodologien für die empirische Sozialforschung bislang weithin unbeachtet blieben. Ziel dieses Posters ist, Ansätze zur Verknüpfung von Systemtheorie und empirischer Sozialforschung aufzuzeigen. Dieses prinzipielle Anliegen selbst, die hier vorgeschlagene Systematisierung und die einzelnen tools werden damit zur Diskussion gestellt.

Das Poster wird in drei Bereiche untergliedert: (a) theoretische Grundannahmen, (b) drei Typen systemtheoretischer Methoden/Methodologien, (c) Beispiele aus aktueller, auch eigener Forschungsarbeit.

Theoretische Grundannahmen der Systemtheorie: Mit einer systemtheoretischen Perspektive gehen einige grundlegende theoretische Prämissen einher: Als Realität wird das konzeptionalisiert, was jeweils aktuell stattfindet, also aneinander anschließende Kommunikationen. Weiter wird davon ausgegangen, dass sich innerhalb dessen (Erwartungs-) Strukturen ausbilden, die sich jeweils aktuell reproduzieren müssen und von einem Beobachter beobachtet werden können.

Konzeptions-, Fokus- und Heuristiktools als Beobachtungsinstrumente aus der Systemtheorie: Diese epistemologischen Grundvoraussetzungen sind trotz einer gewissen Ähnlichkeit zu Diskurstheorie oder Hermeneutik für die praktische wissenschaftliche Arbeit wenig griffig. Auf ihrer Grundlage stellt die Luhmannsche Systemtheorie jedoch auch einige sehr konkrete Beobachtungsinstrumente zur Verfügung. Diese können in Konzeptions-, Fokus- und Heuristik-Methoden (tools) unterschieden werden:

  • Am zugleich abstraktesten und konzeptionell weitreichendsten sind die Konzeptions-tools. Darunter werden die funktionale Analyse, die Beobachtung zweiter Ordnung und die Formanalyse zusammengefasst. Alle drei können als übergeordnetes Design von größeren Studien herangezogen werden.
  • Die Fokus-tools schlagen wesentlich spezifischer bestimmte Analysewege vor. Dazu zählen die semantische Analyse, die Systemanalyse, die Evolutionsanalyse, die Organisationsanalyse und die Medienanalyse. Mit ihrer Hilfe können bestimmte Bereiche einer empirischen Fragestellung fokussiert beleuchtet werden, so z.B mit der semantischen Analyse die Verwendung kommunikationsspezifischer Konzepte.
  • Die Heuristik-tools bezeichnen Gedankenfiguren, die das Auffinden interessanter Punkte wahrscheinlicher machen. Dazu zählen die drei Sinndimensionen, die Unterscheidung triviale/nicht-triviale Maschinen und die Frage nach dem Parasiten.

Zur Wahl der empirischen Beispiele: Nachdem die Systemtheorie sich lange Zeit der Offenlegung ihrer Erhebungs- und Analysemethoden verschlossen hatte und ihr deshalb trotz ihrer durchaus empirischen Untersuchungen zu Recht Empirie-Blindheit vorgeworfen wurde, mehren sich in der jüngsten Vergangenheit die Versuche, mit ihrer Hilfe empirisch zu arbeiten. Insbesondere die semantische Analyse findet dabei Verbreitung. Ich selbst nutze in meiner Dissertation über die Apothekentransformation in Deutschland v.a. die funktionale Analyse, die semantische Analyse und die Organisationsanalyse. Beispiele aus diesen Studien werden in Form von „Sprechblasen“ die Beschreibungen illustrieren.

Kontakt: anna.a.henkel@web.de   
Webseite: http://www.anna-henkel.com