Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften

ausgehend von den Symposien „Zur Lehr-/Lernbarkeit qualitativer Forschung“
und „Qualitative Forschung in der Praxis“ der Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung 2006 und 2007

unterstützt durch

Arbeitskreis Angewandte Gesprächsforschung

Arbeitskreis Rekonstruktive Sozialarbeitsforschung und Biographie

Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS)

Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit

Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS)

Forschungskomitee Interpretative Sozialforschung der SGS

Gesellschaft für Kulturpsychologie

Gesellschaft kritischer Psychologinnen & Psychologen (GkPP)

Kommission „Qualitative Bildungs- und Biographieforschung“ (in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, DGfE; Sektion 2)

Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Österreichische Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW)

Österreichische Gesellschaft für Soziologie (ÖGS)

Psychologie-Fachschaften-Konferenz (PsyFaKo)

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW)

Schweizerische Gesellschaft für Soziale Arbeit (SGSA)

Schweizerische Gesellschaft für Soziologie (SGS)

Sektion Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Sektion Professionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Verein für Gesprächsforschung

Präambel

Qualitative Forschung hat in den letzten zwanzig Jahren eine enorme Ausbreitung in vielen Gebieten der Human- und Sozialwissenschaften und darüber hinaus erfahren und findet selbstverständlich Anwendung in zahlreichen Forschungs- und Praxisfeldern.

Die Methodenausbildung an Hochschulen und Fachhochschulen hat den Bedarf an Vermittlung qualitativer Forschungsmethoden und Methodologie sowie das Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses und angehender Professioneller jedoch lange Zeit unterschätzt und in einigen Disziplinen eine angemessene Methodenausbildung in qualitativer Forschung nicht geleistet. Defizite der bisherigen Methodenausbildung werden auch deutlich in der enormen Nachfrage nach methodenbezogener Weiterbildung jenseits der etablierten Fachcurricula, besonders im Bereich qualitativ orientierter Ansätze durch Studierende vor allem im Rahmen ihrer Abschluss- und Qualifikationsarbeiten (Master, Diplom, Promotion) und durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Forschungs- und Praxisprojekten.

Die Unterzeichnenden machen sich deshalb Sorgen um eine fundierte Methodenausbildung in vielen human- und sozialwissenschaftlichen Fachgebieten, vor allem im Zusammenhang mit neu eingerichteten und in Entwicklung befindlichen Bachelor- und Masterstudiengängen an Universitäten und Fachhochschulen: Manche Studiengänge vernachlässigen die Methodenausbildung, manche präsentieren nur ein einseitiges Methodenspektrum. Um dem entgegenzuwirken, müssen die folgenden inhaltlichen Anforderungen umgesetzt und angemessene Lehr- und Arbeitsstrukturen für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften gewährleistet werden.

Wir stellen folgende inhaltliche Anforderungen an die qualitative Methodenausbildung:

  • Zu einer hochwertigen Ausbildung in human- und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden gehört die Vermittlung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen der empirischen Forschung einschließlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Erkenntnistheorie und Forschungslogik qualitativer und quantitativer Ansätze und Paradigmata. Ein solches Fundament wirkt auch einer Trennung quantitativer und qualitativer Ansätze entgegen. Wo dies noch nicht geschehen ist, muss die Lehre qualitativer Methoden zum festen Bestandteil der Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften werden.
  • Für die qualitative Methodenausbildung ist – unabhängig von der je konkreten Ausgestaltung – sicherzustellen, dass die Studierenden mit den begrifflich-theoretischen Werkzeugen der qualitativen Sozialforschung vertraut werden, dass sie sich ein Überblickswissen über die wichtigsten, bzw. meist verbreiteten qualitativen Forschungsverfahren aneignen und dass sie eine Sensibilisierung für die Gegenstands- und Fragestellungsangemessenheit der Methoden entwickeln.
  • Neben den fachlichen, disziplinären und methodischen Besonderheiten der jeweiligen Methodenausbildung sollten folgende Kompetenzen fachübergreifend vermittelt bzw. für den Erwerb diese Kompetenzen erforderliche Lehr- und Lernräume eröffnet werden: die Fähigkeit zur begründeten Wahl eines qualitativen Forschungsverfahrens für ein konkretes Forschungsprojekt und zur Entwicklung eines angemessenen Forschungsdesigns sowie die Fähigkeit, die einzelnen Verfahrensschritte selbständig bzw. in einer Projektgruppe durchzuführen. Hierzu ist erforderlich, dass Studierende mit mindestens einem Forschungsverfahren durch learning by doing vertraut werden und so Methodenwissen als Handlungswissen projekt- und praxisorientiert erwerben.
  • Studierenden sollte eine Orientierungshilfe für die methodologische und methodische Fundierung ihrer wissenschaftlichen Arbeiten an die Hand gegeben werden, sie müssen lernen können, die Praxisanforderungen (häufig in Form von Geld- und Zeitmangel) sowie die damit einhergehenden Herausforderungen an Planung und Durchführung von Studien zu beachten, und es muss ihnen vermittelt werden, Gütestandards, die auf die spezifische Methodik bezogen sind, ernst zu nehmen.
  • Schließlich sollten Studierende im Rahmen der Methodenausbildung befähigt werden, die historisch-gesellschaftlichen Kontexte und Wirkungszusammenhänge empirischer Forschung zu erkennen und wissenschaftlich-kritisch zu reflektieren. Damit verbunden ist insbesondere die Fähigkeit, das eigene Forschungshandeln im Hinblick auf seine Begründungen und möglichen Wirkungen auf intersubjektiver, institutioneller und gesellschaftlich-politischer Ebene zu befragen. Ziel sollte sein, Studierende zu befähigen, einen forschungsethisch verantwortlichen Rahmen für die Analyse und Beurteilung von Forschungen bzw. für die praktische Entwicklung eigener Forschungsvorhaben zu entwerfen.

Es sind Lehr- und Arbeitsstrukturen zu schaffen, die den spezifischen Anforderungen qualitativen Forschens entsprechen:

  • Der Erwerb methodischer Kenntnisse ist eine Kompetenz, die ohne eine Erhebung, Aufbereitung, Analyse und Interpretation durch die Studierenden selbst nicht sinnvoll realisiert werden kann, denn methodische Kenntnisse qualitativer Sozialforschung können allein abstrakt nicht vermittelt werden. Vielmehr ist es zu einer Aneignung erforderlich, dass das Forschen selbst in materialer Weise zumindest exemplarisch von den Studierenden durchgeführt wird. Das erfordert geeignete Lehr- und Lernformen – beispielsweise Lehrforschungsseminare, Projektkurse oder Studienprojekte –, weil es dazu einer intensiven Anleitung und Betreuung bedarf. Selbst wenn diesen Seminaren einführende Lehrveranstaltungen vorausgehen müssen (die durchaus für eine größere Teilnehmerzahl ausgelegt sein können), ist dieser praktische Abschnitt in der Ausbildung zentral für die Vermittlung und Aneignung qualitativer Forschungsmethoden, die immer auch handelnd erlernt werden müssen.
  • Zur zentralen infrastrukturellen Ausstattung qualitativer Methodenausbildung gehören ausreichend Lehrmittel und kommunikative Räume, wie Interpretations- und Analysegruppen, weil die intersubjektive und theoriebezogen argumentative Nachvollziehbarkeit zentrales Gütekriterium qualitativer Forschung ist und qualitative Forschung per se auf einen kommunikativen Forschungsprozess angewiesen ist. „Forschungswerkstätten“ als Konzepte gemeinsamen, interdisziplinären Lernens, kollegialer Beratung und Forschungssupervision sind wichtige Instrumente der Qualitätssicherung qualitativer Forschung sowie des Aufbaus von Forschungskompetenz beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Ihre Einrichtung an Hochschulen (in Fachbereichen, an Instituten und/oder als zentrale Einrichtung) ist durch Bereitstellung angemessener Ressourcen (Räume, Anrechnung auf Lehrdeputat) und Strukturen nachhaltig sicherzustellen.
  • Empirische Abschlussarbeiten müssen kompetent beraten und begleitet werden. Die Besonderheiten qualitativ-empirischer Forschungsarbeiten (zeitlicher Aufwand, Darstellungsformen, Umfang) sind bei der Einrichtung von Studien- und Prüfungsordnungen, besonders der neuen Studiengänge zu berücksichtigen.
  • Die Bildung von Projektgruppen, die Forschungsarbeit im Team und idealerweise einen interdisziplinären Austausch ermöglichen, sollte unterstützt werden, damit gemeinsames Forschen und insbesondere Interpretieren bereits in der Ausbildung geübt wird. Entsprechend sollten Qualifizierungsarbeiten, wann immer möglich und sinnvoll, von interdisziplinären Teams akzeptiert und begleitet werden. Zugleich sind Besonderheiten und Differenzierungen nach Studiengängen zu berücksichtigen, und die Ausbildung ist ebenso im Hinblick auf die disziplinären Notwendigkeiten und Anforderungen sowie auf die jeweiligen Diskussionsstände hin auszurichten.
  • Die Aneignung komplexer Forschungsmethoden und der Aufbau von Forschungskompetenz benötigen Zeit und die Möglichkeit für Ausprobieren und Fehler. Besonders in den neuen modularisierten Studienstrukturen ist darauf zu achten, dass Studierenden hierfür ausreichend Zeit zur Verfügung steht.

Referentinnen und Referenten der Forschungswerkstätten und Workshops der Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung 2005-2007

Jarg Bergold (Berlin), Franz Breuer (Münster),
Renate Buber (Wien), Andrea Bührmann (München),
Bettina Dausien (Flensburg), Rainer Diaz-Bone (Berlin),
Thorsten Dresing (Marburg), Uwe Flick (Berlin),
Martin Fromm (Stuttgart), Udo Göttlich (Duisburg),
Ronald Hitzler (Dortmund), Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik (Mannheim),
Anne Honer (Fulda), Udo Kelle (Marburg),
Mechthild Kiegelmann (Trier), Gerhard Kleining (Hamburg),
Hubert Knoblauch (Berlin), Anne Kuckartz (Marburg),
Thomas Leithäuser (Bremen), Morus Markard (Berlin),
Philipp Mayring (Klagenfurt), Paul Mecheril (Innsbruck),
Irena Medjedovic (Bremen), Günter Mey (Berlin),
Lothar Mikos (Potsdam), Bina Elisabeth Mohn (Berlin),
Katja Mruck (Berlin), Thomas Muhr (Berlin),
Michaela Pfadenhauer (Karlsruhe), Jo Reichertz (Essen),
Thomas Reim (Magdeburg), Gerhard Riemann (Nürnberg),
Gabriele Rosenthal (Göttingen), Rudolf Schmitt (Zittau-Görlitz),
Werner Schneider (Augsburg), Bernt Schnettler (Berlin),
Margrit Schreier (Bremen), Jutta Stich (München),
Bettina Völter (Berlin), Andreas Wernet (Hannover),
Andreas Witzel (Bremen), Josef Zelger (Innsbruck)

[Erstunterzeichnung Frühjahr 2008]