Mittagsvorlesung 2024

Standortgebundene Kritik, das Begehren nach Weltveränderung und interpretative Praxis. Das Beispiel rassismuskritischer Forschung

Prof. Dr. Paul Mecheril

Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft

Strukturell bedingte, zunehmend drastischer werdende Ungleichheiten zwischen Menschen, ihr Leben auf würdige Weise zu leben, sind empirisch kennzeichnend für gesellschaftliche Wirklichkeit. Fundament des Rassismus ist ein flexibles, historisch und kontextuell variables Schema von Erklärungen und Phantasmen, die die vermeintliche Angemessenheit von auf Rassekonstruktionen basierenden Unterscheidungen von Menschen herausstellen. Rassismus kann verstanden werden als eine global wie lokal strukturierende Ungleichheitsdimension, die auf einem spezifischen Differenzschema, „Rasse“, mit potenziell dehumanisierender Wirkung beruht. Wie dieses Schema und die subjektiven, intersubjektiven, institutionellen und politischen Wirklichkeiten, die das Schema vermittelt, im Rahmen interpretativer Forschung angemessen untersuchen? Und was wären Angemessenheitskriterien?

Weil Rassismus als Kategorie der Untersuchung gesellschaftlicher Gegenwartsverhältnisse in Deutschland lange Zeit verpönt war und auch in der deutschsprachigen qualitativen Forschung eher selten Verwendung fand (was sich offensichtlich verändert, und die Einladung zu diesem Vortrag ist ein Indiz dieses Wandels), zeigen sich in rassismuskritischer Forschung bestimmte Momente qualitativ-interpretativer Forschung vor oder zu Beginn ihrer akademischen Institutionalisierung besonders klar, ironisch formuliert: noch im Status einer gewissen Unschuld und Unbedarftheit. In diesem Sinne möchte ich am Beispiel rassismuskritischer Forschung in meinem Vortrag nachdenken über eine meines Erachtens allgemein bedeutsame Bedingung qualitativ-interpretativer Forschung, zumindest jener, die auch von einem gesellschaftskritischen Anspruch motiviert ist. Diese Bedingung lautet: Die Unmöglichkeit qualitativ-interpretativer Forschung ist ihre Möglichkeitsbedingung.

Erläutern werde ich diese Un-Möglichkeit sehr gerne (aber, wer weiß, was bis Juli noch passiert) an drei Momenten, erstens dem Begehren nach Weltveränderung, das meiner Ansicht nach jede Kritik motiviert, von ihr aber verfehlt und auch verraten werden muss; zweitens dem Streben nach Anerkennung als respektable Wissenschaftlerin und den Ängsten und Anmaßungen, die mit diesem Streben verbunden sind, sowie drittens nicht nur der Krise der Repräsentation (z.B.: Wer spricht eigentlich über wen?), sondern der Krise der Krise der Repräsentation (nicht zuletzt in Zeiten der weltweiten Bedrohung dessen, was zuweilen Wissenschaftsfreiheit genannt wird). Was aus diesen Überlegungen für (rassismuskritische) Forschung folgt, wird am Ende des Vortrags eine gewisse Rolle spielen. Dabei wird auch auf epistemische Machtverhältnisse an deutschen Hochschulen und Möglichkeiten ihrer Reflexion, Kritik und Veränderung einzugehen sein. Dieser letzte Abschnitt wird nicht die Überschrift „Critical Whiteness“, vielleicht aber „Laute Bescheidenheit“ tragen.