Mittagsvorlesung 2017

Forschungsbeziehungen in qualitativer Forschung:
Gestaltung, Analyse und forschungsethische Reflexion

Prof. Dr. Hella von Unger

Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, Institut für Soziologie

Sozialforschung ist ohne die Mitwirkung von gesellschaftlichen Akteuren nicht möglich. Auch die meisten Varianten der qualitativen Forschung benötigen die Unterstützung von Einzelpersonen, Gruppen oder Einrichtungen, z.B. als Kooperations-Partner_innen, Teilnehmende, Schlüsselpersonen oder Ko-Forschende. Forschungsbeziehungen nehmen damit einen zentralen Stellenwert ein – sie müssen aufgebaut und gepflegt werden. Auch ihr Ende will gestaltet sein – idealerweise in einer Form, die zukünftige Forschung nicht unmöglich macht.

Der Vortrag beleuchtet Fragen der Gestaltung, Analyse und forschungsethischen Reflexion von Forschungsbeziehungen – mit einem Fokus auf kontroversen Fragen der aktuellen Diskussion. Was spricht beispielsweise dafür, Forschungsbeziehungen partizipativ zu gestalten? Bei welchen Fragestellungen und in welchen Kontexten ist dagegen eine klassisch-akademische Forschungsbeziehung mit einer klaren Rollentrennung zwischen „Forschenden“ und „Beforschten“ angemessen? Wann und wie geben wir uns im Feld als Forschende zu erkennen? Oder forschen wir verdeckt?

In den letzten Jahren werden diese Fragen nicht mehr nur im Hinblick auf forschungspraktisch-methodische Aspekte und methodologische Begründungen diskutiert, sondern es fließen zunehmend auch explizit forschungsethische Abwägungen ein. Forschende sind aufgefordert, „gute Forschung“ zu machen und den wissenschaftlichen Standards gerecht zu werden, und gleichzeitig die Anliegen der Teilnehmenden zu berücksichtigen und Schaden zu vermeiden. Forschung wird als sozialer Prozess begriffen, dessen Verlauf und mögliche Konsequenzen verstärkt in den Blick geraten.

Unabhängig davon, wie Forschungsbeziehungen im Einzelnen gestaltet werden, sind sie als Teil der Forschungssituation grundsätzlich Gegenstand der Analyse und Reflexion. Oft beinhalten gerade auch problematische Erfahrungen, zum Beispiel beim Zugang zum Feld oder in Konfliktsituationen, ein erhebliches Erkenntnispotenzial. Allerdings ist der wissenschaftliche Ertrag nicht das einzige Kriterium, das für die Gestaltung und Bewertung von Forschungsbeziehungen ausschlaggebend ist. Forschung ohne Erkenntnis wäre keine Wissenschaft, aber Wissenschaft ohne gesellschaftliche Verantwortung und Unterstützung würde der Sozialforschung langfristig die Grundlage entziehen.