Mittagsvorlesung 2012

Interview als Text vs. Interview als Interaktion

Prof. Dr. Arnulf Deppermann

Institut für Deutsche Sprache, Mannheim / Universität Mannheim

Das Interview ist nach wie vor das beliebteste sozialwissenschaftliche Erhebungsverfahren. Ökonomie der Erhebung, Vergleichbarkeit und die Möglichkeit, Einsicht in Praxisbereiche und historisch-biografische Dimensionen zu erhalten, die der direkten Beobachtung kaum zugänglich sind, machen nach wie vor seine Attraktivität aus. Zugleich mehren sich die Kritiken, die seine Leistungsfähigkeit problematisieren, indem sie auf die begrenzte Reichweite der Explikationsfähigkeiten der Befragten, die Reaktivität der Erhebung oder unaufhebbare Differenz zwischen Handeln und dem Bericht über Handeln verweisen.

In der Vorlesung sollen unterschiedliche sozialwissenschaftliche Verständnisse des Gegenstands „Interview“ einander gegenübergestellt und in ihren Konsequenzen für mögliche Erkenntnisinteressen und angemessene Auswertungsmethoden kritisch verglichen werden. Grundlegend wir dabei zwischen Ansätzen, die das Interview als Text, und solchen, die es als Interaktion verstehen, unterschieden. Nach dem „Text“-Verständnis werden Interviews unter inhaltlichen Gesichtspunkten analysiert und als Zugang zu einer vorgängigen sozialen oder psychischen Wirklichkeit angesehen. Das „Interaktions“-Verständnis sieht Interviews dagegen als situierte Praxis, in welcher kollaborativ im Hier und Jetzt soziale Strukturen hergestellt werden. Anhand von Fragestellungen aus dem Bereich der Identitäts- und Biografieforschung wird an Datenbeispielen diskutiert, welche Art von Aussagen sich mit den beiden Ansätzen gewinnen lassen, inwieweit diese komplementär und miteinander vereinbar sind und wo ihre jeweiligen methodologischen Grenzen zu liegen scheinen. Es wird dafür plädiert, die interaktive Konstitutionsweise von Interviews methodisch konsequent zu berücksichtigen und die Ebene der aktuellen Herstellung sozialer Wirklichkeit im Interview stärker als dies bisher zumeist getan wird hinsichtlich ihrer Erkenntnispotenziale zu nutzen.