Mittagsvorlesung 2006

Wohin des Wegs? Ein Kommentar zu neueren Entwicklungen in der deutschsprachigen „qualitativen“ Sozialforschung

Prof. Dr. Ronald Hitzler

Universität Dortmund
Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Fachbereich 12

Der Vortrag, ein Kommentar zu neueren Entwicklungen in der als „qualitativ“ etikettierten deutschsprachigen Sozialforschung, nimmt Überlegungen aus meinem Beitrag „The Reconstruction of Meaning. Notes on German Interpretive Sociology“ im Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2005, 6(3) auf, ergänzt diese um eine „tour d’horizon“ zum entsprechenden Stand der „Dinge“ in einigen Nachbardisziplinen der Soziologie und stellt daran anschließend die Frage danach, wohin sich eine genuin interpretative empirische Forschung in den Sozialwissenschaften mit welchen vermeintlichen Konsequenzen bewegen wird bzw. kann.

In den Methodendebatten der empirischen Kulturwissenschaften, der Erziehungswissenschaften, der Psychologie, der Politikwissenschaft und immer deutlicher auch der Marketing- bzw. Marktforschungswissenschaft gewinnen – allen Vernachlässigungs- und Frustrationsbekundungen einiger ihrer Protagonisten zum Trotz – so genannte „qualitative“ Verfahren zunehmend an Gewicht und Stimme. Am sichtbarsten „auf gleiche Augenhöhe“ mit den so genannten „quantitativen“ Methoden wurden die ebenso gerne wie fälschlicherweise auch als „weich“ bezeichneten Ansätze hierzulande bislang aber in der Soziologie gebracht:

Die vor dem Hintergrund einvernehmlicher Kommissionsbeschlüsse zur Reform der Rahmenrichtlinien „Diplomstudiengang Soziologie“ der deutschen Kultusministerkonferenz erfolgte relativ stärkere Gewichtung der Instrumente nichtstandardisierter Sozialforschung in der Methodenausbildung und die von den Entscheidungsgremien der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit massiven Mehrheiten gebilligte Neugründung einer gegenüber der traditions- und einflussreichen Sektion „Methoden der empirischen Sozialforschung“ selbständigen Sektion „Methoden der qualitativen Sozialforschung“ hat hierzulande die keineswegs neue Debatte um auch für die nichtstandardisiert arbeitende Forschung geltende Standards in jüngerer Zeit (wieder) polemisch radikalisiert zum expliziten Zweifel daran, ob dieser Flügel der Sozialforschung den Anspruch, (auch) Methoden in einem wissenschaftstheoretisch strengen Sinne zu verwenden, überhaupt legitimer Weise erheben dürfe.

Während die Aufmerksamkeit etlicher vor allem jüngerer Methodiker und Protagonisten der neu gegründeten Sektion „Methoden der qualitativen Sozialforschung“ dergestalt auf sozusagen extern auferlegte Relevanzen der Qualitätssicherung fokussiert zu werden scheint, lässt sich in anderen, herkömmlicher Weise an explorativ-interpretativen bzw. nichtstandardisierenden Methoden orientierten Arbeitszusammenhängen nicht nur eine Vielzahl, sondern auch eine ausgeprägte Vielfalt von zwar nicht systematisch aufeinander abgestimmten, aber synergetisch vernetzten Aktivitäten beobachten, die von der Rekonstruktion und „Pflege“ der Werke älterer und jüngerer Theoretiker des symbolischen Interaktionismus, der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und der Phänomenologie über programmatische und methodologische Diskussionen zu deren paradigmatischen Kernbeständen bis zur forschungspraktisch angeleiteten Neu- und Weiter-Entwicklung von Methoden und deren Anwendung und Erprobung in multiplen Feldern aktueller empirischer Problemstellungen reichen.

Unter Berücksichtigung auch einschlägiger aktueller Debatten in den genannten Nachbardisziplinen stellt sich vor dem Hintergrund dieser – hier argumentativ absichtsvoll überpointierten – „Zweispurigkeit“ die Frage, wohin diese gegenwärtig beobachtbaren Entwicklungen von unter dem Etikett „qualitativ“ versammelten Ansätze absehbar weisen.