Symposium 2009

Methode mit Technik – Technik mit Methode

Beitragende: Udo Kuckartz, Universität Marburg; Thomas Muhr, ATLAS.ti; Bernt Schnettler, Universität Bayreuth; Josef Zelger, Universität Innsbruck und Sebastian Ziegaus, Fraunhofer ISI; Moderation: Günter Mey

Teilnehmende und ihre Beiträge in der Vortragsabfolge

Günter Mey: Eröffnung 

Neue Medien – alte Programme? Zum Verhältnis von Sozialforschung und technischen Medien

Sebastian Ziegaus, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung

Technische Gerätschaften oder Medien prägen alle Phasen und Aspekte der Sozialforschung. Sie sind jedoch keine neutralen Hilfsmittel, die keine Rückwirkung auf die methodologischen Programme hätten. Dies gilt auch für die Software-Lösungen, die in der Auswertung qualitativer Daten zum Einsatz kommen.

Ein Kennzeichen der zeitgenössischen Sozialforschung ist, dass ihre Daten elektronisch konstituiert werden. Aufgrund des zunehmenden Technikeinsatzes in der Sozialforschung ist es schlüssig, Forschungssysteme als informationsverarbeitende Systeme zu beschreiben, die aus natürlichen und technischen Elementen bestehen. Unter den Bedingungen der elektronischen Medien emergieren Informationen auf einem anderen Niveau als zuvor.

Die digitale Dividende, die sich aus dem Einsatz digitaler Medien ergibt, ist die Möglichkeit, Daten neu zu strukturieren und zu organisieren. Der Erhalt von Komplexität auf der Ebene der Daten, die Verknüpfung von Daten unterschiedlicher Art oder ihre multimediale Aufbereitung machen einerseits die Komplexität der Daten sinnlich erfahrbar, steuern andererseits wiederum die Wahrnehmung der Forschenden. Dadurch entwickeln auch diese Tools ein Eigenleben, das über die herkömmlichen Methodologien und Ansätze der Sozialforschung hinaus geht.

Da sich in der Sozialforschung Methode und Gegenstand immer wechselseitig bedingen und konstituieren, müssen die Implikationen, die sich aus einem Tool ergeben, immer mitgedacht, aber nicht nur auf technische Aspekte beschränkt werden. Psychische, soziale und technische Elemente in Forschungssystemen müssen in ihrem Zusammenhang betrachtet werden.

Das Medium ist die Message. Qualitative Forschung verlässt die Gutenberg-Galaxis

Udo Kuckartz, Universität Marburg

Sozialwissenschaftliche Forschung – und das gilt auch für qualitative Forschung – geschieht eingebettet in die technische Entwicklung der Gesellschaft. Keine Forschung geschieht ohne Medien und ohne Technik. So wie heute der durchschnittliche Büroarbeitsplatz anders aussieht als im 18., 19. oder 20. Jahrhundert, so sieht auch der Arbeitsplatz qualitativer Forscher/innen anders aus als zuzeiten von Marie Jahoda und der Marienthalstudie. Jede Technik verändert den Maßstab, das Tempo und die Strukturierung der Arbeit.

Wann ist etwas Neues wirklich „etwas Neues“? In der Diskussion um die Effekte des Computereinsatzes bilden zwei Positionen die gegensätzlichen Pole: einerseits der Standpunkt, Computerprogramme seien nur Hilfsmittel, die den prinzipiellen Charakter der Analyse kaum verändern und insofern nichts wirklich Neues darstellen; andererseits die Position, die inhärente Logik von CAQDAS bevorzuge ganz bestimmte Ansätze bis hin zur dezidierten Ablehnung jeglicher Computernutzung bei Glaser. Aus der Medientheorie wissen wir allerdings, dass Medien und Technik nicht nur Accessoires und neutrale Werkzeuge sind. Neue Techniken erzeugen eine neue Umwelt, mit neuen Chancen und Risiken. Dabei besitzt Technik einen Aufforderungscharakter, sie macht uns neugierig und ruft uns zu „Nutze mich!“. Dies lässt sich prototypisch auch für den Prozess der Entstehung und Entwicklung von QDA-Software rund um den Globus nachzeichnen.

Welche Wirkung hat Technik nun auf den Prozess qualitativer Datenanalyse? Hier lassen sich fünf Bereiche von Effekten unterscheiden a) Tempo/Schnelligkeit/Effektivität; b) Verknüpfungsmöglichkeiten der Daten (auch multimedial); c) Visualisierung/größere Datennähe; d) Unterstützung von Mixed-Methods-Ansätzen und Triangulation; e) Dokumentation/Nachvollziehbarkeit/Qualität. Zu den Wirkungen zählt allerdings auch die auf den ersten Blick nicht wahrgenommene, vielleicht gar nicht vollständig wahrnehmbare Veränderung von Maßstab, Tempo und Strukturierung der Arbeit. Folgt man dem kanadischen Medientheoretiker McLuhan, so ist ja eben das Medium die Message: Die Technik weitet unsere Fähigkeiten aus und entführt uns aus der beschaulichen Gutenberg-Galaxis in das digitale Zeitalter.

Welchen Zielen dient eine PC-unterstützte Textanalyse?

Josef Zelger, Universität Innsbruck

Wenn es darum geht, technische Hilfsmittel zu beurteilen, sollten zunächst die wichtigsten Ziele der qualitativen Sozialforschung ins Auge gefasst werden.

Es ist ein Ziel der qualitativen Sozialforschung, Zusammenhänge zwischen Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen von Personengruppen zu klären und darzustellen. Es geht um Zusammenhänge, die auf Erfahrung beruhen und die gut begründet sind. Die Analyse von Beziehungen, die in Texten zum Ausdruck kommen, führt aber schon bei einer begrenzten verbalen Datenmenge zu hoch komplexen Ergebnissen, die wegen der begrenzten Informationsverarbeitungsfähigkeit des Bewusstseins zu einem stark selektiven Vorgehen zwingen. Damit zeigt sich ein Vorzug der PC-unterstützten verbalen Datenanalyse. Die komplexen Ergebnisse der Beziehungsanalyse zwischen unterschiedlichen Meinungen und Einstellungen können in ihrer hohen Komplexität gespeichert, verarbeitet und dargestellt werden. Durch Reduktion der Komplexität wird es möglich, die Gesamtergebnisse eines Projekts ganzheitlich auf einen Blick zu erfassen. Durch Erhöhung der Komplexität im Umfeld von Suchbegriffen können Einzelergebnisse im Detail analysiert werden. Dazu soll als Beispiel ein Assoziationsnetz gezeigt werden, dessen Komplexität am PC nach Bedarf variiert werden kann.

Als weiteres Ziel der qualitativen Forschung können wir eine sinnvolle Systematisierung der verbalen Daten ansehen. Es muss möglich sein, die zentralen Ergebnisse eines Projektes zu erklären und zu verstehen. Um einen Text zu erklären, muss er aus einer kohärenten Textgruppe der Datenbasis ableitbar sein, um ihn zu verstehen soll er außerdem in einen übergeordneten Kontext eingeordnet werden können. Auch dafür soll ein Beispiel aufgezeigt werden, bei dem das interaktive Navigieren des Analysten am PC zur Systematisierung führt.

Schließlich wird mithilfe von qualitativen Forschungsprojekten versucht, soziale, organisatorische, politische u.a. Entscheidungen vorzubereiten, Probleme zu bearbeiten und Umsetzungsbemühungen zu unterstützen. Es geht um einen sozialen Entscheidungsprozess, in dem Schwerpunkte, Ziele und Maßnahmen festgelegt werden. Die traditionelle Entscheidungsfindung wird oft gehemmt durch voreilige Festlegungen.

In einem Beispiel wird verdeutlicht, dass PC-Unterstützung den Entscheidungsprozess insofern verbessern kann, als eine Vielzahl von Einflussmöglichkeiten und Folgen, manchmal auch eine Übersicht über rückgekoppelte Wirkungszusammenhänge zur pragmatischen Klärung der Gesamtsituation eingesetzt werden kann.

Software-Tools werden in der qualitativen Sozialforschung verwendet, um Texte aus einer verbalen Datenbasis sinnvoll und zusammenhängend auszuwählen, zu analysieren und zusammenzufassen. Sie erlauben die Entdeckung von Widersprüchen und die Überprüfung der Ergebnisse anhand neuer Texte. Es handelt sich um Tools, die die Auffindung von Lösungsmöglichkeiten unter Einbeziehung der Betroffenen unterstützen. In Bezug auf die Methodologie dürfen heute innovative Neuerungen durch das Zusammentreffen traditioneller Vorgangsweisen und digitaler Medien erwartet werden


Sind Computer einfach zu gut?

Thomas Muhr, ATLAS.ti GmbH, Berlin

Die Frage nach der Eignung eines Werkzeugs für einen gegebenen Gegenstandsbereich ist zum einen die nach der Qualität der Realisierung durch die Werkzeugmacher – die Ingenieursperspektive – und zum anderen die nach der prinzipiellen (u.a. moralischen) Tauglichkeit, also eine kritische (methodologische) Perspektive. Probleme der ersteren resultieren also aus der Dysfunktionalität des Werkzeugs, die der letzteren daraus, weil das Werkzeug prinzipiell unangemessen oder zu funktioniell ist.

In der „Arena“ dieses Diskurses treffen sich Anwender und Ingenieure als primäre Akteure mit Zielsetzung Aufklärung, Warnung, Legitimation, usw. Eine befriedigende Antwort steht noch aus – entweder muss die Fragestellung selbst, deren Prämissen oder die bisherigen Antworten auf den Prüfstand. Manch Einwand aus kritischer Perspektive (0/1 und „Hammer“-Argument) ist jedenfalls unbefriedigend. Auch die Verengung der Werkzeugbetrachtung auf den „Computer“ könnte auf Abstellgleise führen; der Übergang von der ikonographischen zur textuellen Speicherung (Gutenberg inklusive) kollektiven Wissens (Flusser) war sicher ein deutlich größerer Sprung. Wie können wir als Ingenieure diesen Problemen begegnen? Wir müssen in erster Linie unsere Arbeit gut machen. Dazu gehört die korrekte Umsetzung von Vorgaben aus dem Diskurs mit Anwendern und Auftraggebern (für die Analyse empfehlen wir …), wobei Probleme an allen Schnittstellen eines idealerweise zyklischen Entwicklungs- und Verwendungsprozesses auftreten können:

  • Gegenstandsbereich à Methode à Anforderungen à Implementierung à Anwendung à 
    Rückmeldung

Neben den konkreten Anforderungen einer Methode sind allgemeine Prinzipien und Vorgaben der Forschungstätigkeit zu berücksichtigen. Dazu gehört bspw. die „Lebensdauer“ und Interoperabilität der Daten und Projekte (standardisierte Import/Exportformate), eine kognitiv angemessene Gestaltung der Benutzeroberfläche (Daten-Nähe, Visualisierung, Spontaneität) und die Unterstützung der Zusammenarbeit.

Trotz – aus Ingenieurssicht – gelungener Umsetzung führt die Anwendung von Werkzeugen in der Regel auch zu Beschränkungen und Artefakten, die zumindest berücksichtigt werden sollten. Kodes als Knoten in Netzwerken sind eine unter Umständen unpassende Verdinglichung fließender Konzepte. Andererseits ist die computertypische Partikularisierung von Texten, deren Kodierung und Vernetzung verglichen mit dem traditionell-linearen Textgebrauch zwar auch „Artefakt“, aber mit positiver Wirkung (Serendipity). Die ebenso computerbegünstigte Datenproliferation und Beschleunigung der Arbeit könnte sich allerdings zu einem echten (Quantitäts-) Problem der qualitativen Forschung entwickeln. Occam’s Razor lässt grüßen.

Brauchen wir nun weniger oder mehr Computer?

„Paper, Pencil and Rubber“ – Einige wissenssoziologische Bemerkungen zur Rolle von Erhebungs- und Auswertungsapparaten für die qualitative Sozialforschung

Bernt Schnettler, Universität Bayreuth

Die qualitative Sozialforschung ist im Kern nicht auf Technik angewiesen. Alle Instrumente spielen lediglich eine subsidiäre Rolle, weil der wesentliche Charakter qualitativer Forschung technikunabhängig ist. Gleichwohl können Apparate mitunter für die Erhebung nützlich sein und bei der Analyse wichtige Dienste leisten. Ebenso zweifellos affiziert der Einsatz bestimmter Aufzeichnungs- und Auswertungstechnik den Forschungsverlauf und verändert – mehr oder weniger – die Art und Weise des Forschungsvorgehens. So lassen sich etwa bestimmte Datensorten nur mit besonderen Instrumenten erzeugen und verarbeiten, was in unerwünschte Spezialisierungen führen kann. Auch durch die wohl massivste Veränderung der jüngeren Vergangenheit wird allerdings die Subsidiarität der Technik für die qualitative Forschung nicht aufgehoben. Die „Digitalisierung“, d.h. der verstärkte Einsatz von Computer und Internet besitzt einige klare Vorzüge. Neben der Erzeugung und Speicherung betrifft dies vor allem die Möglichkeit der verteilten Analyse und den erleichterten Austausch sowie die Präsentation von Ergebnissen. Zugleich werden auch neue Probleme erzeugt, von den – trivialeren – Tücken kompletten Datenverlusts über eine neue Datenknechtschaft und Technikverliebtheit bis hin zu wesentlich bedrohlicheren Entspezifizierung von Forschungshandeln in einer computerisierten Alltags- und Berufskultur.