Symposium 2007
Praxis der Qualitativen Forschung – Qualitative Forschung in der Praxis
Moderation: Anne Kuckartz & Margrit Schreier
unter Beteiligung von: Jarg Bergold (Freie Universität Berlin), Renate Buber (WU Wien), Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik (GESIS-ZUMA Mannheim), Philipp Mayring (Universität Klagenfurt) und Jutta Stich (DJI – Deutsches Jugendinstitut München)
Mit dem Symposiumsthema soll bewusst ein Anschluss an das Vorgängerthema zur „Lehr-/Lernbarkeit von qualitativer Forschung“ hergestellt werden, indem nach der „Praxis der qualitativen Forschung“ gefragt wird. Gedacht ist aber nicht an eine einfache „Fortsetzung“, sondern mit dem Thema „Qualitative Forschung in der Praxis“ soll qualitative Forschung gleichzeitig auch auf den „Prüfstand“ gestellt werden, nämlich mit der Frage: Für welche Tätigkeitsbereiche taugt die qualitative Forschung, so wie sie akademisch vermittelt wird? Oder: Welche Anforderungen sind an die akademische Ausbildung seitens welcher Tätigkeitsbereiche zu formulieren? Zu fragen ist auch, ob und ggf. in welchen Bereichen überhaupt die Standards qualitativer Forschung eingehalten werden (können), und ob die akademische qualitative Forschung diesen Anforderungen überhaupt gerecht werden kann und gerecht werden will. Hierzu scheint es notwendig, sich unterschiedliche Bereiche und deren „Logiken“ und „Constraints“ zu vergegenwärtigen und zu fragen, welche Gütekriterien bzw. Rechtfertigungsargumente, Erhebungs-/Sampling-/Auswertungsstrategien den jeweiligen Praxisanforderungen eher genügen als andere. Und schließlich geht es um die Frage eines potenziellen Arbeitsmarktes für (gut ausgebildete) qualitative Forschende und damit um die Frage, in welchen Segmenten qualitative Forschung besonders reüssieren kann, weil sie sich bereits etablieren konnte oder weil ihr (künftig) Bedeutung für die Auseinandersetzung mit elementaren Fragestellungen zugesprochen wird. Hierzu gehört auch der akademische Bereich. Es ist zu fragen, welche Konsequenzen die Qualifizierung in qualitativen Methoden für die akademische Karriere hat.
Teilnehmende und ihre Beiträge in der vorgesehenen Vortragsabfolge
Der Theorie-Praxis-Diskurs unter der Perspektive qualitativ orientierter Forschung
Philipp Mayring (Universität Klagenfurt)
Der Theorie-Praxis-Diskurs (z.B. in der Psychotherapie zwischen Lehrbuchwissen und therapeutischem Handeln) unterstellt, dass oft praktisches Handeln einschränkenden Bedingungen unterliegt (spezifischer Kontext, Handlungsdruck), die eine direkte Theorieanwendung nur eingeschränkt zulassen und schnelles, kontextsensitives, intuitives Reagieren erfordern. Die These von der Theorie-Praxis-Kluft unterstellt weiterhin, dass theoretisches Wissen oft so abstrakt ist, dass es nicht direkt in Praxis umgesetzt werden kann.
Dies mag für bestimmte Praxisbereiche Gültigkeit haben, in denen die Person des Praktikers (Therapeut, Arzt) entscheidenden Einfluss auf den Interventionserfolg hat. Das darf aber m.E. nicht für Forschungshandeln gelten, auch nicht für qualitatives Forschungshandeln. Hier geht es darum, in der Methodenforschung gerade für neuere methodische Ansätze Standards, Ablaufmodelle und Gütekriterien zu entwickeln, die einen stringenten Einsatz in der Praxis erlauben. Wo beispielsweise kontextsensitiv im Forschungsprojekt neue Instrumente (z.B. Interviewleitfaden oder Auswertungskategorien) entwickelt werden, sind Pilotphasen nötig.
Die These wird am Beispiel von Handlungsforschung und Fallanalyse weiter erläutert. Für Handlungsforschung („Praxisforschung“!) wird die Bedeutung sauberer empirischer Arbeit durch die WissenschaftlerInnen, der Steigerung wissenschaftlicher Kompetenzen bei den PraktikerInnen und der Ableitung generalisierbaren Handlungswissens aus Handlungsforschungsprojekten betont. Für die Fallanalyse werden methodische Standards und Ablaufmodelle betont. Wenn, so die These, im Praxiszusammenhang die Einhaltung solcher Methodenstandards nicht möglich ist, sollte das Forschungsprojekt abgebrochen werden.
Eine Ausnahme stellt dabei der Evaluationsbereich dar. Auch wenn Evaluation darüber definiert ist, dass wissenschaftliche Methoden zur Praxisbewertung eingesetzt werden, handelt es sich hier oft um eine Servicefunktion für die Praxis, die Kompromisse eingehen muss. Was bewertet werden soll, welche Mittel einsetzbar sind, welche Ziele überprüft werden soll, das sollte im Diskurs der EvaluatorInnen und PraktikerInnen festgelegt werden. Aber auch hier gibt es eine Grenzlinie, deren Überschreitung den EvaluatorInnen einen Rückzug nahe legen sollte.
Die Suche nach dem „optimalen“ Forschungsdesign. Projektberatung bei GESIS-ZUMA
Jürgen H.P. Hoffmeyer-Zlotnik (GESIS-ZUMA Mannheim)
Projektberatung bei GESIS-ZUMA bedeutet Forschende projektbezogen in methodischen Fragen der empirischen Sozialforschung zu beraten. Ein zentraler Part ist die Beratung zum Forschungsdesign: An der Forschungsfrage orientiert sich die Auswahl der optimalen Methode und die Operationalisierung.
Anhand von zwei Beispielen wird gezeigt, wie sich die Wahl der „optimalen“ Methode aus der Forschungsfrage ergibt und dass dieses nicht selten zu einem Mix von qualitativen und quantitativen Methoden führt. Die Beispiele stehen für die Suche nach dem „optimalen“ Forschungsdesign.
Jede Anfrage aus einem Projekt bedeutet immer wieder aufs Neue sich mit der Forschungsfrage und einem zu deren Untersuchung optimalen Verfahren auseinander zu setzen. Hilfreich ist hierbei die kumulierte Forschungserfahrung auch und vor allem aus der Kommunikation mit den Forschungspartnern, mit denen gemeinsam das Forschungsdesign zu deren Fragestellung erarbeitet wird.
Qualitative Verfahren finden bei den von GESIS-ZUMA beratenen Projekten in dreierlei Situationen Anwendung. Erstens: im Sinne der Wahl der optimalen Methode, Hypothesen generierend, zu einer gegebenen Fragestellung; zweitens: vor- oder nachbereitend zu einer quantitativen Umfrage; drittens: im Rahmen von cognitiven Pretestverfahren.
„Basteln will gelernt sein“ – Anmerkungen aus den Niederungen eines Forschungsalltags an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis
Jutta Stich (Deutsches Jugendinstitut München)
Das Deutsches Jugendinstitut – aufgrund seiner Größe kein uninteressanter Arbeitsmarkt für Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler – hat in den letzten Jahren überwiegend Soziologinnen und Soziologen gesucht, die in qualitativen Forschungsverfahren qualifiziert sind. Ein Charakteristikum ihres Forschungsalltags in den Niederungen der Auftragsforschung ist, dass die Standards hoch elaborierter interpretativer Forschungsverfahren der interpretativen Sozialforschung vor allem in Praxisprojekten und Begleitstudien eher in Ausnahmefällen eingehalten werden können. Deren Einhaltung setzt Ressourcen und Rahmenbedingungen voraus, die vielfach nicht gegeben sind, zumindest in einer Forschungseinrichtung an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis oft nicht realisierbar sind. Der Befund ist trivial, aber m.E. weder in der methodischen Fachliteratur noch in der universitären Methodenausbildung als Herausforderung entsprechend angenommen. Ein vermintes Feld? Ein selbstbescheidener, ehrenwerter Verzicht auf einen interpretativen Zugang muss jedenfalls, um überzeugend zu sein, den Beweis erbringen, dass unter den jeweils gegebenen bescheidenen Bedingungen eine interpretative Empirie keinen angemessenen, hinreichend theoretisch und methodisch fundierten Erkenntnisgewinn bringen kann oder eine standardisierte Empirie der Forschungsfrage angemessener ist.
In dem Kurzbeitrag werden einige der – nicht nur Forschungseinrichtungen des genannten Typs eigenen – strukturellen Hindernisse für die Einhaltung von „fachgerechten“ Methodenstandards benannt und auf Erfahrungen mit verschiedenen Maßnahmen zur Unterstützung und Qualifizierung von qualitativ arbeitenden Forschenden, wie Forschungswerkstätten, Projektberatung in Methodenfragen und systematische kollegiale Vernetzungen und Ad-Hoc-Gruppen zur Bearbeitung konkreter methodischer Probleme eingegangen.
Aus dieser Perspektive wird in der akademischen Methodenausbildung eine gründlichere Vermittlung hermeneutischen Grundlagenwissens als wichtigste Voraussetzung für die notwendigen kreativen Gratwanderungen im Forschungsalltag mit seinen begrenzten Ressourcen angemahnt – notfalls auf Kosten der Vermittlung ausgefeilter methodischer Ansätze.
Ergebnisse von qualitativen Marketingstudien: Evident and Bulky oder Surprising and Comprehensive?
Renate Buber (Wirtschaftsuniversität Wien)
In der betrieblichen Auftragsmarktforschung werden aufgrund der Marktdynamik (z. B.: Verkürzung von Produktlebenszyklen, hybride KundInnen, Wettbewerbsdruck, Veränderungen in den Beschaffungswegen) und der sich dadurch häufig verändernden Informationsbedarfe rasche und kostengünstige Lösungen zur Risikoreduktion bei unmittelbar anstehenden Marketingentscheidungen verlangt. Die Ergebnisse einer Marktforschungsstudie sollen einen wesentlichen – wenn nicht den alleinigen – Beitrag für die Planung und Implementierung von Marketingstrategien bzw. die Entscheidung über Marketingmaßnahmen etwa bei der Einführung eines neuen Produktes leisten. Demnach wird der Marktforschungsprozess stark von den Erwartungen des Auftraggebers an die Problemlösungskapazität der Ergebnisse beeinflusst. Die Themenstellungen sind fremdbestimmt. Im Vordergrund steht neben der Beurteilung der Kosten-/Nutzenrelation die Verwertbarkeit der Ergebnisse.
Die Marketingwissenschaft hingegen verlangt nach Forschungsergebnissen, die auf breiter Basis stehen, der theoretischen Fundierung von Problemlösungen bzw. der Beantwortung von Forschungsfragen dienen, ebenso relativ rasch verfügbar („publish or perish“) und innovativ sind. Hypothesengenerierung, Theorieentwicklung, Methodenentwicklung und somit die grundlagenforschungsorientierte Herangehensweise an eine Marketingforschungsstudie stehen in der akademischen Marketingforschung – zumindest theoretisch gesehen – im Fokus der Betrachtung („Consumer Odyssey Study“). Die vor allem deutschsprachige Wissenschaftspraxis zeigt hingegen eine Schieflage in Richtung Gestaltungsorientierung der Studien. Die Datensätze werden für marketingrelevante Fragestellungen von Unternehmen generiert, die Ergebnisse sollen anwendungsorientiert interpretiert und ohne allzu große Transferleistungen in betriebliche Handlungen umgesetzt werden können. Dieser Zielsetzung haftet der Anspruch an, dass Marketingforschungsstudien sowohl auf der Ebene des Entdeckungs-, des Erklärungs- wie auch des Verwendungszusammenhanges Ergebnisse liefern.
Dieser Beitrag diskutiert auf Basis der skizzierten Rahmenbedingungen Ursachen für die sowohl von PraktikerInnen wie WissenschafterInnen geäußerte Kritik der Offensichtlichkeit und Sperrigkeit der Ergebnisse von qualitativen Marketingstudien und zeigt Optionen für die Marktforschung durch die Nutzung qualitativer Methodologie und Methodik auf. Dabei wird auf Beispiele aus den gängigen Anwendungsfeldern KonsumentInnenforschung, Imageforschung und Usability-Forschung Bezug genommen.
Rechtfertigung wem gegenüber? Gütekriterien für wen?
Jarg Bergold (Freie Universität Berlin)
Die grundsätzliche Fragestellung dieses Symposiums ist die Frage nach dem Verhältnis von Theorie, bzw. von universitärer Ausbildung und Praxis. Es ist eine Frage, die schon häufig diskutiert worden ist und momentan z.B. in der Psychologie durch eine Entwicklung wieder virulent geworden ist, die mit dem Schlagwort „Zurück in den Elfenbeinturm“ kennzeichnen werden kann. Aus der Perspektive von Vertretern einer positivistischen Epistemologie und eines technisch rationalistischen Verständnisses von Praxis erscheint die real vorfindliche Praxis immer weitgehend minderwertig.
Diese Situation spiegelt sich in der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern quantitativer und qualitativer methodischer Ansätze wieder und innerhalb der qualitativen Methodendiskussion z.B. in den Auseinandersetzungen um Gütekriterien. Im letzteren Fall werden häufig Argumente aufgeführt, welche die „wissenschaftliche Reputierlichkeit“ des Ansatzes aufzeigen sollen. Die ganz andere Struktur der Praxisfelder wird dabei selten berücksichtigt.
Anhand der Forschung und Evaluation in Entwicklungsprojekten aus verschiedenen Bereichen soll gezeigt werden, dass sich Forschung in der Praxis gegenüber sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren mit sehr unterschiedlichen Argumenten rechtfertigen muss. Das Wissenschaftssystem ist nur einer dieser Akteure, die anderen werden in der universitären Ausbildung kaum oder nicht berücksichtigt. Dies kann in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten für alle Beteiligten führen.