Symposium 2006

Zur Frage des Lehrens und Lernens von qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethodik

Moderation: Franz Breuer & Margrit Schreier

unter Beteiligung von: Bettina Dausien (Bundeswehrhochschule München/Bielefeld), Barbara Dieris (Unicversität Münster), Hubert Knoblauch (TU Berlin), Thomas Leithäuser (Universität Bremen), Katja Mruck (Freie Universität Berlin) und Rudolf Schmitt (Hochschule Görlitz-Zittau)

Das Symposium auf dem diesjährigen Berliner Methodentreffen beschäftigt sich mit der Frage der Lern- und Lehrbarkeit qualitativ-methodischen Denkens und Arbeitens. Qualitative Methoden werden – in Forschungswerkstätten und Workshops – auf dem „Berliner Methodentreffen“ vermittelt und eingeübt – aber nicht nur dort. Solche Lehr-Lern-Prozesse finden in ganz verschiedenen Umständen und Kontexten statt: in unterschiedlichen interpersonalen Konstellationen, institutionellen und disziplinären Settings, curricularen Einbettungen, medialen Umgebungen usw. Vor dem Hintergrund von Reflexivität eigenen Handelns als zentralem Merkmal einer qualitativen Methodenorientierung stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich das Lernen und Lehren solcher Kompetenzen konkret gestaltet und – im Hinblick auf eine „erfolgreiche“ Vermittlung – gestalten sollte. Dieser Themenkomplex steht im Mittelpunkt des diesjährigen Symposiums des „Berliner Methodentreffens“.

„Vermittlung“ von Kompetenzen erfolgt stets zwischen Personen, den Lehrenden und den Lernenden, in einer bestimmten Art und Weise, in einem je konkreten (institutionellen) Umfeld und Kontext, und sie hat bestenfalls auch Konsequenzen, wie dies mit der Begrifflichkeit der „erfolgreichen“ Vermittlung bereits angesprochen ist. Damit sind zugleich die zentralen Aspekte des Lehrens und Lernens qualitativer Forschungsmethodik benannt, denen wir in diesem Symposium genauer nachgehen wollen. Erstens wird es um die Person der oder des Lernenden gehen: Gibt es hier so etwas wie eine „Passung“ zwischen Person und Methode, beinhaltet ein qualitativer Forschungsstil also eine Vorgehensweise, die manchen mehr, anderen dagegen weniger liegt, und verbinden sich damit Grenzen der Vermittelbarkeit? Einen zweiten Schwerpunkt bilden die didaktischen Formen der Vermittlung und Aneignung: Wovon hängt es beispielsweise ab, ob Lehrende eher versuchen, Wissen über eine Methode aus Lehrbüchern zu vermitteln, oder die Lernenden bei der Durchführung eigener Forschungsarbeiten anleiten, und welche Erfahrungen haben Lernende mit diesen didaktischen Stilen gemacht? Erfordern verschiedene Methoden vielleicht auch unterschiedliche Vermittlungsweisen – qualitative im Vergleich zu quantitativen Methoden beispielsweise eine größere auch persönliche Nähe zwischen Lehrenden und Lernenden? Drittens möchten wir der Frage nachgehen, ob und inwieweit Kontexte und Rahmenbedingungen die Art und Weise prägen, wie qualitative Methoden vermittelt und erlernt werden – angefangen von institutionellen Bedingungen (universitäres Lernen, Lernen in Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen), über unterschiedliche Disziplinen und qualitative „Schulen“ bis hin zu möglichen Auswirkungen von Entwicklungen wie etwa der Umsetzung des Bologna-Prozesses in BA- und MA-Studiengänge. Ein besonderer Kontext, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist der Ausbau von Möglichkeiten elektronischen bzw. netzbasierten Formen des Lehrens und Lernens: Wie wirkt sich eine solche Umgebung auf den Lehr- und Lernprozess aus? Schließlich stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Konsequenzen des Lehr- und Lernprozesses die Frage, ob eine Ausbildung in qualitativer Methodik geeignet ist, Kompetenzen zu vermitteln, die über Methodenwissen hinaus und in die sozialwissenschaftliche Praxis hineinreichen – beispielsweise in pädagogischen oder institutionell-organisatorischen Kontexten.

Teilnehmende und ihre Beiträge in der vorgesehenen Vortragsabfolge

Reflexion und Selbstreflexion in Erhebung und Auswertung von qualitativen Interviews und Gruppendiskusionen

Thomas Leithäuser (Universität Bremen)

In diesem Beitrag sollen qualitative sozialwissenschaftliche und psychologische Methoden als „reflexive Hermeneutik“ verstanden werden. In Bezugnahme auf die phänomenologischen und pragmatischen Ansätze in der Philosophie wird orientiert an Margret Archers Konzept der „Internal Conversation“ ein Verlauf von Reflexionsschritten konstruiert, die der „reflexiven Hermeneutik“ in Erhebung und Auswertung der Forschung mit qualitativen Methoden den Weg bahnen helfen sollen. Anschließend daran wird die Vermittlung zur Tiefenhermeneutik und Psychoanalyse bedacht. Der Beitrag wird mit einem Hinweis auf die Anwendung „reflexiver Hermeneutik“ in der sozialwissenschaftlichen Praxis abschließen.

Lehr- und Lernbarkeit qualitativer Methoden in Lehre und Bewertung

Hubert Knoblauch (Technische Universität Berlin)

So sehr die qualitativen Methoden sich etablieren, gelten sie doch vielfach noch als „impressionistisch“. In der Tat sind sie von einer besonders starken Spannung zwischen Methodik und Intuition geprägt, die sich einer Standardisierung der Durchführung wie auch der Bewertung zu entziehen scheint. Diese Spannung kommt nicht von ungefähr, sind diese Methoden doch, wie es auch heißt, nicht-standardisiert. Allerdings sollte der Widerstand gegen die Standardisierung keineswegs als Manko verstanden werden, wissen wir doch, dass auch standardisierte Messungen in der quantitativen Forschung der Sozial- und der Naturwissenschaften entscheidend von lokalen Konventionen abhängen. Das Problem der geringen Standardisierung ist weniger der „interpretativen Offenheit“ zu verdanken als einerseits der Unterschiedlichkeit der Verfahren, die sich aus verschiedenen Forschungstraditionen entwickelt haben, und andererseits ihrer Differenz zu dem, was durch mittelbare Ausbildung erlernbar ist. Beide Probleme können mittelfristig zu einer Verwässerung der qualitativen Methoden führen. Als Lösung wird vorgeschlagen: (1) die reflexiv-pragmatische Wende der Methodologie und (2) die ausgeprägte Forschungsorientierung der qualitativen Methodenausbildung.

Was ist qualitative Forschung? – Eine studentische Lernerfahrung

Barbara Dieris (Universität Münster)

Nach meinem Vordiplom in Psychologie ergab sich die Möglichkeit in einem Forschungsseminar zu erfahren, was sich hinter dem für mich bis dahin sehr vagen Begriff der qualitativen Sozialforschung verbirgt.

Zum einen zeigte sich, dass das Lernen einer qualitativen Forschungsmethode ein langsames Herantasten und vorsichtiges Vertraut werden mit bestimmten Denkweisen ist (in meinem Fall vor allem an der Grounded Theory orientiert). Unsicherheiten, wie es denn genau funktioniert, wie man irgendwann zu einem „qualitativen“ Forschungsergebnis kommt, blieben.

Zum anderen entstanden trotz der bestehenden Unklarheiten überraschend schnell Gefühle von Begeisterung und Faszination, so dass ich manchmal den Eindruck habe, nicht ich sei es, die sich einen qualitativen Forschungsstil erschließe, sondern dieser entwickele sich vielmehr „aus mir heraus“ – sicherlich gelenkt und gebahnt durch entsprechenden didaktischen Input einerseits und Erprobungs-Freiräume andererseits. Qualitativ zu forschen stellte sich mir in erster Linie nicht als das Erlernen einer Technik, eines feststehenden, immer gleichen Prozederes dar, sondern als das Erkunden, Entwickeln, sich Aneignen einer bestimmten Haltung.

Persönliche Schlüsselerfahrungen waren dabei die expliziten Angebote und Möglichkeiten, sich unter anderem gerade über literarische Texte einem Forschungsthema anzunähern, ungeahnte Berührungspunkte zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Psychologie und Literaturwissenschaft) zu entdecken, leicht Bezüge zu alltagsweltlichen Themen und Erfahrungen herstellen zu können, bestimmte forschungsrelevante Fragen nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen, verschiedene Perspektiven gleichberechtigt berücksichtigen zu dürfen, intensive Schreiberfahrungen zu machen.

In meinem Symposiums-Beitrag möchte ich die hier aufgeworfenen Erfahrungen und Aspekte genauer darstellen und – wenn möglich auch gemeinsam – reflektieren und diskutieren!

Die standortunabhängige Begleitung qualitativer Forschungsarbeiten über den gesamten Arbeitsprozess – Erfahrungen mit der “ NetzWerkstatt. Integrierte Methodenbegleitung für qualitative Qualifizierungsarbeiten“

Katja Mruck (Freie Universität Berlin):

Eine intensive Beschäftigung mit qualitativer Methodologie und Methodik wäre schon angesichts der Charakteristik qualitativer Forschung vonnöten: Mit dem Bemühen um einen sinnverstehenden Zugang zu psychischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeiten werden in der Regel andere Ziele (z.B. Theoriekonstruktion statt Theorie-/Hypothesenprüfung) verfolgt und andere Kriterien der Güte herangezogen als im Falle quantitativer Methodik. Auch existieren, verglichen mit statistischen Verfahren, sehr viel weniger standardisierte Routinen des Arbeitens, eine Ausgangslage, die zusätzlich erschwert wird durch die für qualitative Forschung weiterhin charakteristische Unübersichtlichkeit von Stilen/Verfahren einschließlich verschiedenster Spezialisierungen und „Schulen“.

Während der Stand qualitativer Forschung jedoch mittlerweile vergleichsweise entwickelt ist, ist die Situation in der Lehre in Deutschland weiter unzureichend. Qualitative Verfahren sind nur selten gleichberechtigt in die universitären Curricula aufgenommen, in einigen Fällen (so z.B. in der Psychologie) wird das Angebot derzeit im Rahmen der Studienreform weiter zurückgedrängt, womit zunehmend kompetente Ansprechpartner(innen) vor Ort fehlen. Konsequenz ist, dass Studierende und Promovierende, die in ihren Arbeiten oder für ihre spätere Berufspraxis qualitative Methoden verwenden wollen, oft vor erheblichen Problemen stehen. Hier spielen überregionale Wissenschaftseinrichtungen und Stiftungen für die Aus- und Weiterbildung eine zunehmend wichtige Rolle und dezentrale Workshop-Veranstaltungen erfahren eine kontinuierlich wachsende Resonanz, um (in vielen Fällen: nachträglich) qualitative Methoden zu erlernen und um die Ergebnisse der eigenen Arbeit absichern zu können. Dies eröffnet zwar eine punktuelle Unterstützung, kann aber die methodisch und psychosozial erforderliche kontinuierliche Begleitung und den kontinuierlichen Austausch nicht ersetzen.

NetzWerkstatt. Integrierte Methodenbegleitung für qualitative Qualifizierungsarbeiten ist der Versuch einer produktiven Lösung dieses Dilemmas. Bei der Entwicklung der NetzWerkstatt wurde zunächst auf Erfahrungen mit der „Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens“ (Mruck & Mey 1998) zurückgegriffen, eine zwischen Colloquium, Supervision und Interpretationsgemeinschaft angesiedelte und das Modell der Themenzentrierten Interaktion (Cohn 1975) nutzende Arbeitsform, bei der 1994-1999 an der Freien Universität Berlin Diplomand(inn)en in Kleingruppen über den gesamten Arbeitsprozess begleitet wurden. Mit der vermehrten Nutzung des Internet zur Vernetzung qualitativ Forschender ab 1999 wurde deutlich, dass eine Revision des ursprünglichen Konzepts sinnvoll und möglich war, da vermehrt Anfragen aus anderen Städten kamen mit der Bitte um methodische Begleitung/Betreuung von Qualifikationsarbeiten. In der Folge wurden Mailinglisten und Chats für die Arbeit in diesen Gruppen verwandt; ab 2003 konnten Fördermittel der Freien Universität Berlin und der Hans-Böckler-Stiftung eingeworben werden, um Konzept und Umsetzung der NetzWerkstatt zu systematisieren und zu verbreitern. Derzeit gehören der NetzWerkstatt ca. 30 Teilnehmende an (nahezu ausschließlich mit Dissertationsvorhaben). Die Arbeit findet in vier Kleingruppen und in einem Plenum überwiegend online mittels Mailinglisten und einer Lernplattform (Chats, Diskussionsforen, Dokumentverwaltung, Online-Bibliothek usw.) statt.

In dem Beitrag werden nach einer kurzen Einordnung der NetzWerkstatt in die deutsche Ausbildungslandschaft das Konzept und die Arbeitsweise im Plenum und in den Kleingruppen beschrieben. Probleme und Potenziale, die mit einem standortunabhangigen und überwiegend netzbasierten Angebot verbunden sind, das die Teilnehmenden über den gesamten Arbeitsprozess begleitet, werden diskutiert.

Reflexivität, Vertrauen, Professionalität. Was Studierende in einer gemeinsamen Praxis qualitativer Forschung lernen können

Bettina Dausien (Bundeswehr-Hochschule München/Bielefeld)

Der Beitrag diskutiert die Frage, welche Kompetenzen Studierende in der Arbeit mit qualitativen Forschungsmethoden entwickeln können und welche Rahmenbedingungen dafür erforderlich sind. Im Hinblick auf Kompetenzen werden drei Bereiche angesprochen:

  • grundlegende wissenschaftliche Kompetenzen, die unter dem Stichwort der Reflexivität gefasst werden (mit Bourdieu ist hier „wissenschaftliche“ und nicht die „nazißtische Reflexivität“ gemeint),
  • die Entwicklung von Vertrauen in die eigene Handlungs- und Deutungsfähigkeit, sowohl im wissenschaftlichen Sinn (Vertrauen in die Geltung/Plausibilität von Forschungen und Interpretationen) als auch im subjektbezogenen Sinn (Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Handlungsvermögen); sowie
  • Grundlagen sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Professionalität, die deshalb entwickelt werden können, da zwischen qualitativer Forschung und professionellem Handeln strukturelle Parallelen bestehen (dies wird an ausgewählten Aspekten des Forschungsprozesses erläutert).

Abschließend gehe ich kurz auf die Bedeutung des sozialen Rahmens für die Aneignung und Entfaltung der genannten Kompetenzen ein. Dabei wird die These vertreten, dass Lernen eine gemeinsame Praxis ist bzw. einen gemeinsamen Raum der praktischen Auseinandersetzung mit Forschung und Wissenschaft („Reflexion als gemeinsame Praxis“) erfordert. Das Setting der Forschungswerkstatt und Projektarbeit werden als zwei geeignete Formen für (qualitative) Forschung und forschendes Lernen im universitären Kontext benannt.

Die Lehre qualitativer Forschung im Studium der Sozialen Arbeit an einer Fachhochschule: Nebenschauplätze nutzen

Rudolf Schmitt (Hochschule Görlitz-Zittau)

Qualitative Forschung und die Lehre im Studium der Sozialen Arbeit an einer Fachhochschule steht in einer unüblichen Spannung zueinander:

  • Zwar wird darauf verwiesen, dass das Studium ein wissenschaftliches sei, und publizierte Forschungsleistungen sind bei Berufungen Pflicht. De facto ist bei einem Budget von 18 Semesterwochenstunden für die Lehrenden und einem komprimierten und gleichzeitig sehr heterogenen Studium auf Seiten der Studierenden wenig Zeit dafür.
  • Andererseits ist gerade qualitative Forschung geeignet, die komplexen Situationen in der Sozialen Arbeit und die mehrfach geschichteten biografischen Erlebnismuster der KlientInnen zu begreifen, Interventionen zu entwickeln und zu evaluieren.

Die institutionellen Kontexte und Umstände des Lehrens und Lernens (Lehrvorgaben, Zeitvorgaben, Prüfungsordnungen) müssen daher kreativ genutzt werden. Der Beitrag stellt daher unterschiedliche Lehr-Lern-Formen und ihre curriculare Verankerung kurz vor:

  • ein Forschungsmethodenseminar
  • das Projektstudium
  • ein Wahlpflichtfach „Geistes- und Humanwissenschaftliche Grundlagen“
  • ein Seminar „Beratung und Behandlung“
  • Diplomarbeit und Diplomandenkolloquium

Insbesondere soll deutlich werden, dass das Etikett „qualitative Forschung“ in der Mehrzahl der Veranstaltungen gar nicht im Veranstaltungstitel auftaucht, sondern forschendes Lernen als Grundhaltung qualitativer Denkansätze in andere Themenbereiche überträgt.