Closing Lecture 2014

Leibzentrierte Sinnkonstitution. Zur Relevanz der phänomenologischen Lebensweltanalyse für die qualitative Forschung

Prof. Dr. Thomas S. Eberle

Universität St. Gallen, School of Humanities and Social Sciences

Angesichts der kontinuierlichen Ausdifferenzierung der qualitativen Forschung in verschiedene Ansätze und Schulen kann man sich in einem Vortrag entweder um einen Überblick bemühen oder darauf, das Erkenntnispotenzial eines bestimmten Ansatzes darzustellen. Die Phänomenologie erhebt zwar einen erkenntnistheoretischen Anspruch, doch wird hier kein Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Ansätzen postuliert. Es soll vielmehr dargelegt werden, welchen methodologischen Beitrag eine Analyse der leibzentrierten subjektiven Sinnkonstitution leisten kann. Die Plattform liefert Max Webers Diktum, dass Soziologie den subjektiven Sinn sozialen Handelns verstehen soll. Ziel der Phänomenologie ist es, die subjektive Sinnkonstitution auf einer vorsprachlichen Ebene zu analysieren, also dort wo sich sinnliche und sinnhafte Wahrnehmung miteinander verquicken. Eine phänomenologische Einstellung fördert die „Awareness“, das Wahrnehmen nicht nur von visuellen, auditiven, olfaktorischen, haptischen und gustatorischen Empfindungen, sondern auch von Stimmungen und Gefühlen. Und sie schärft den Blick für das, was der Wahrnehmung „wirklich“ gegeben ist. Dies schützt erstens vor vorschnellen sprachlichen Kategorisierungen und Reifikationen, gibt zweitens Webers methodologischem Postulat der Sinnadäquanz prägnanteren Gehalt und schärft drittens die Beobachtungsgabe: Ohne Phänomenologie wäre die Ethnomethodologie kaum denkbar gewesen. Während in der deutschen Soziologie lange die Ansicht dominierte, die Lebensweltanalyse lediglich als Protosoziologie zu verstehen, versuchen neuere Ansätze, sie viel direkter mit qualitativer Forschung zu verbinden. Beispiele dafür sind die lebensweltliche Ethnografie, die Ethnophänomenologie sowie die phänomenologische Hermeneutik.