Closing Lecture 2012
Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma
Prof. Dr. Ronald Hitzler
Technische Universität Dortmund, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie
Der Zustand „Wachkoma“ konfundiert und destruiert nicht nur die Existenz des primär Betroffenen und die Lebensgewohnheiten, Gegenwartsinteressen und Zukunftserwartungen seiner wie auch immer persönlich mit ihm verbundenen und infolgedessen mehr oder weniger nachdrücklich und nachhaltig Mit-Betroffenen. Ein Mensch im sogenannten Wachkoma stürzt Menschen, die mit ihm zu tun haben, in Krisen der Mitmenschlichkeit, denn es ist ausgesprochen ungewiss, ob das, womit man es im Umgang mit ihm zu tun hat, (noch) ein Anderer ‚wie ich‘ ist. Wer infolge dessen an-dauernd mit Menschen im sogenannten Wachkoma zu tun hat – sei es aufgrund persönlicher Beziehungen, sei es in ehrenamtlichen Funktionen oder sei es in medizinisch-therapeutisch-pflegerischen Berufsrollen –, der muss die durch die notorische Ungewissheit des Anderen evozierten Zweifel und die durch diese Zweifel ausgelösten Krisen der Mitmenschlichkeit in für ihn ‚lebbare‘ Deutungszusammenhänge und in gegenüber Alltagswahrnehmungen (im Zweifelsfall) resistente symbolische Sinnsystemen und rituelle Handlungsweisen transformieren.
Vor dem Hintergrund einiger mit einem (laufenden) Projekt zum „Deutungsmuster Wachkoma“ einhergehender methodologischer und methodischer Probleme werden in diesem Schlussvortrag zum Berliner Methodentreffen 2012 einige Aspekte des Mit-Erlebens eines Menschen mit schwersten Gehirnschädigungen, der Konstitution eines als solchem zweifelhaften Anderen und der rituellen Konstruktion einer die alltäglichen Interaktions- und Kommunikationserwartungen ‚unterlaufenden‘ Person diskutiert. Rekonstruiert wird, im Rekurs auf die mundanphänomenologische Appräsentationsanalyse und die wissenssoziologisch-hermeneutische Symboltheorie, der dabei erkennbare, mehrstufige Decodierungsvorgang.